Zwangsadoptionen
Warum gab es damals überhaupt Heime für Kleinkinder? Sara Galle: «Solche Institutionen waren etwa für Kinder unverheirateter Mütter gedacht.» Ledige Mütter aus einkommensschwachen Schichten und mit wenig familiärem Rückhalt, galten bis weit in die 1970er-Jahre als «liederlich» und ungeeignet für die Erziehung eines Kindes. Bis 1978 kam unverheirateten Müttern das Sorgerecht nicht automatisch zu, sondern nur, wenn die Behörden es ihnen zusprachen. Unehelich geborene Kinder bekamen einen Beistand, der die Vaterschaft abzuklären hatte und danach meist einen Vormund. Bis 1973, als das neue Adoptionsrecht in Kraft trat, konnten Kinder auch ohne Einverständnis der Mütter zur Adoption gegeben werden. Diese Kinder wurden bis zur Weitergabe an Adoptiveltern häufig in Säuglingsheimen untergebracht.
In vielen Fällen willigten die Mütter jedoch auch einer Adoption zu. Dann etwa, wenn sie von den Behörden bereits in der Schwangerschaft oder direkt nach der Geburt stark unter Druck gesetzt wurden und ihnen kein anderer Ausweg aufgezeigt wurde. Sodass sie gar nicht anders konnten, als zu unterschreiben. Es kam auch vor, dass «liederliche» Mütter nach der Geburt zwangssterilisiert wurden. Manche Frauen wurden zur «Nacherziehung» in Zwangsarbeitsanstalten oder in die Frauenstrafanstalt Hindelbank eingewiesen – «administrativ versorgt», wie das damals hiess.
So wie Ursula Müller-Biondi. Geboren 1949 entsprach sie in ihrer Jugendzeit nicht den vorherrschenden Moralvorstellungen. Die gebürtige Italienerin galt als unangepasst, wurde als «Störenfriedin» von der Gesellschaft verachtet. Trug sie einen Minirock, wurde sie von den Menschen auf der Strasse als «Drecksau» bezeichnet. «Ich musste lernen, mir solche Sachen nicht mehr gefallen zu lassen», erzählt sie im Rahmen der Erfahrungsberichte der Guido-Fluri-Stiftung, welche sich mit der Aufarbeitung der Heimgeschichte zwischen 2010 und 2013 befasst hat.
Mit 16 Jahren wurde Ursula MüllerBiondi schwanger und floh mit ihrer grossen Liebe aus Angst ins Ausland. Dort von den Behörden aufgegriffen wurde sie in die Frauenstrafanstalt Hindelbank zur «Nacherziehung» gesperrt. Ihr Kind, das dort zur Welt kam, wurde ihr nach der Geburt weggenommen. «Ich hatte alles verloren, was ich liebte, meinen Sohn, meinen Mann, meine Freiheit. Den Alltag verbrachte ich mit verurteilten Mörderinnen.» Nach drei Monaten gab man ihr das Kind zurück, «nachdem ich nicht aufgehört hatte zu schreien und zu drohen». Fünf Monate später durfte sie die Strafanstalt verlassen.