Magst du länger auf dem Spielplatz bleiben oder sollen wir noch beim Grossmami vorbeischauen?», fragt der Vater den schaukelnden Dreijährigen. Und drängt: «Entscheide dich! Beides geht nicht.» «Spielplatz ! », ruft der Bub spontan. Später, als der Heimweg ansteht, will der Kleine «Zum Grossmami ! ». Doch dafür ist nun keine Zeit mehr. Der weitere Verlauf ist vorprogrammiert: grosses Geschrei und Gezerre, an dessen Ende alle Beteiligten unzufrieden sind. Kinder dürfen heute überall mitreden. Und tun das auch. «Erziehung auf Augenhöhe» heisst dafür der Fachbegriff. Der dänische Familientherapeut Jesper Juul sprach von «Gleichwürdigkeit innerhalb der Familie». Damit meinte er, dass die Bedürfnisse aller Familienmitglieder gleich wichtig zu nehmen sind. Was gut so ist. Schliesslich sollen mündige Menschen aus ihnen werden. Nur: Die konkrete Umsetzung im Alltag erweist sich oft als nicht so leicht.
Können Kleinkinder bereits aus 30 verschiedenen Glace-Sorten auswählen? Sollen Kindergartenkinder bei der Ferienplanung mitreden dürfen, Primarschüler:innen beim Hauskauf?
Gleichwürdig zu erziehen, heisst nicht gleichberechtigt
Caroline Märki leitet familylab Schweiz, eine Organisation, die Familienberatung nach Jesper Juul anbietet. Sie stellt ein grundlegendes Missverständnis fest: «Gleichwürdigkeit innerhalb der Familie heisst nicht, dass alle gleichberechtigt sind.» Die Familienberaterin findet: «Erwachsene müssen mehr entscheiden.» Tatsächlich sei Erziehung auf Augenhöhe vergleichbar mit Führung in der Arbeitswelt: Chef oder Chefin tragen mehr Verantwortung und fällen letztendlich die Entscheide – trotzdem können sie ihre Mitarbeitenden gleichwürdig behandeln. Dies gelte für Mutter und Vater ganz genauso.
Klar, geht es um Grundbedürfnisse, entscheiden bereits kleine Kinder selbst (Bin ich satt? Muss ich aufs WC? Ist mir warm oder kalt ? ). Bei komplexeren Entscheidungen, bei denen nicht allein das Fühlen entscheidet, wünscht sich Caroline Märki jedoch Eltern stärker in die Pflicht.
Denn in ihrer täglichen Arbeit hat die Familienberaterin viel mit Eltern zu tun, die sich scheuen, Führung zu übernehmen. «Die wenigsten möchten heute ihre Kinder autoritär erziehen», beobachtet sie. Gleichzeitig fehle es an Vorbildern, wie Mutter und Vater die Zügel in der Hand behalten und dennoch die Integrität des Nachwuchses achten können. Etwas für sein Kind zu entscheiden, bedeute, Verantwortung zu übernehmen. Dabei müsse man dann auch aushalten, wenn das Kind mit der elterlichen Führung nicht einverstanden ist. «Die Integrität des Kindes zu respektieren, heisst nicht, dass es bekommt, was es will», betont die Familienberaterin. Eltern sollten dem Nachwuchs signalisieren: «Wir sehen dich und deine Wünsche – aber letztendlich entscheiden wir.»
Als ihre heute erwachsene Tochter neun Jahre alt war und die Familie Ferien im Ausland machte, war das Kind abends so müde, dass es sich sträubte, mit zum Essen zu gehen. «Auch wenn wir es schön fanden, dass sie ihre Grenzen erkannte: Wir konnten sie in dem fremden Land nicht allein lassen; zudem hatte der Grossteil der Familie Hunger», erzählt Caroline Märki. Deshalb entschieden die Eltern für das Kind. Die Konsequenz? Die Tochter kam widerwillig mit, aber die Stimmung war im Eimer.
«Viele Eltern versuchen Konflikte unter allen Umständen zu vermeiden», beobachtet die Familienberaterin. Aus diesem Grund umgehen sie oft klare Ansagen und überlassen Entscheide lieber dem Nachwuchs. Dabei sei es ein Missverständnis, dass in einer gut funktionierenden Familie Harmonie herrsche. Eltern müssten auch mal die Wut und den Frust des Kindes aushalten können. Tatsächlich müsse man sich die Harmonie durch viele konstruktive Konflikte erarbeiten.