Furchtbare Angst
Es war ein trüber Tag, als die erste Panikattacke über Anna Meier hereinbrach. «Mein Partner war für drei Tage verreist. Ich hatte furchtbare Angst. Was mach ich allein mit dem Kind? Was, wenn ich die Kontrolle verliere? Was, wenn ich ihr was antue? Es war, als hätte jemand mit dem Finger geschnippt, und ich war verrückt geworden.» Sie weint.
Die Schwiegermutter kam, und eine Freundin. Anna Meier legte sich ins Bett, apathisch. Wenn sie das Baby auf den Arm nahm, wurde ihr schlecht. Wollte sie ihm die Flasche geben, erbrach sie sich. «Ich verlor jegliche Kontrolle.» Eine Psychologin empfahl einen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik Königsfelden. «Niemals, da gehöre ich nicht hin», sei ihre Reaktion gewesen. Doch als ihr Partner ein paar Tage nach seiner Rückkehr zur Arbeit gehen wollte, sagte sie: «Bitte lass mich nicht allein mit ihr. Ich weiss nicht, was ich dann tue.»
Mit der Selbsteinweisung in die Klinik Königsfelden fand sie erstmals wieder etwas Ruhe. Nach zwei Wochen wurde eine Anschlusslösung in einer Mutter-Kind-Klinik diskutiert. Doch die Warteliste war lang. «Zudem hätte ich die Nachtbetreuung für Gloria übernehmen müssen. Ich traute mir das nicht zu», so Anna Meier. Dann erfuhren sie vom Mutter-Kind-Haus in Gempen. Mit ihrem Partner fuhr sie hin zu einem Gespräch. «Und ich wusste genau, das hier ist der richtige Ort für uns.»
Die ersten zwei Tage im Mutter-Kind- Haus wollte sie alles selber machen. «Ich wollte zeigen, dass ich ein gutes Mami bin.»
Dann kam der totale Zusammenbruch. «Katharina hat mich gehalten, und ich habe geweint, habe meinen Schmerz und meine Trauer rausgeschrien, darüber, was mit mir passiert ist. Ich konnte mich fallen lassen und wurde gehalten», so Meier. Katharina Guldimann sagt, dass es oft so sei. «Nach ein oder zwei Tagen spüren die Frauen, dass sie jetzt loslassen dürfen. Das Kind ist bei ihnen, sie werden nicht getrennt. Für das Baby wird gesorgt, Tag und Nacht. Jetzt können sie trauern.» Der Anfang auf dem Weg zur Heilung.
Tagesziele werden in dem nach anthroposophischen Ansätzen geführten Haus mit jeder Frau individuell erarbeitet, je nach Bedürfnis. Angeboten werden gemeinsame Kinderbetreuung, ein gedeckter Tisch, gesundes Essen, Ruhe, Wickel, Kompressen, rhythmische Teil- und Ganzkörpermassagen, Pflege, Aufbau und Stärkung der Psyche und der Physis und völlige Entlastung. Neun Fachfrauen plus Aushilfen kümmern sich um die Frauen und deren Kinder. «Wenn es eine Mutter wünscht, üben wir mit dem Kind über Rituale regelmässige Tagesabläufe und Schlafzeiten ein», so Guldimann. «Regelmässigkeiten und Rituale machen das Leben mit Kindern einfacher. Und Kinder mögen Rituale, an ihnen können sie sich orientieren.»
Die Gemeinschaft hier unter den Frauen sei von grossem Wert. «Sie unterstützen sich gegenseitig, leben sich vor, dass man es schaffen kann. Denn viele Frauen glauben nicht daran, je wieder ganz gesund zu werden», sagt die Leiterin. Doch bis jetzt habe es jede Frau geschafft. Aber es ist ein langer Weg, der mit dem Austritt hier nicht zu Ende ist. «Wir besprechen gemeinsam mit dem Partner die Zeit danach. Was braucht die Frau zur Entlastung? Psychiatrische Spitex, einen Entlastungsdienst, Angehörige, die einspringen, eine ambulante Therapie?», so Guldimann. Und was braucht das Paar? Was die Männer? Sie sind ebenfalls Leidtragende, hineingerissen in den Strudel dieser Krankheit, die mit unvorstellbarer Wucht Leben verändert. «Bei Männern hinterlassen diese Geschichten genauso Spuren und Narben», so Katharina Guldimann.
Anna Meier sitzt am Tisch vor dem Fenster, durch das sie in den letzten Wochen den Wandel der Natur erlebt hat, erst den Herbst und dann, wie es Winter wurde. Vor ihr stehen zwei Babuschkas, eine grosse und eine kleine, Mama und Kind. Ein Geschenk, von ihrer Mutter. Es war die Ruhe hier, die Natur, der liebevolle Umgang und die Wärme der Menschen, die Pflege und die Zeit für sich, die sie geheilt haben. «Ich schaue Sophie an und kann Liebe empfinden. Ich habe sie bei mir, aber nicht mehr die ganze Zeit hautnah. Sie ist so ruhig geworden. Ich habe gelernt, mir Zeit zu nehmen. Für sie. Für mich. Für meinen Partner. Für uns.» Anna Meier lächelt. «Diese Zeit war auch für ihn sehr schwer», sagt sie. «Er war immer für mich da. Er hat an mich geglaubt. Wir sind uns jetzt noch näher.» Es war Blutmond, als sie ganz unten war und sich in die psychiatrische Klinik einweisen liess. «Heute gehen wir heim. Und es ist wieder Vollmond. Es hat sich alles zusammengefügt.»