Was entspricht einem normalen Familienleben? Was gehört sich – und was nicht? Meine Eltern etwa finden es unverständlich, dass ich mit meinen Kindern in der Stadt lebe statt in einem Einfamilienhäuschen auf dem Land. «Kinder gehören in die Natur», höre ich jeweils. Gewisse Städter wiederum sind der Ansicht, ich lebe in einem «bünzligen» Familienquartier – ohne Multikulti-Chic. Es gibt Leute, die nehmen Anstoss daran, wenn ich anstelle eines Feierabendbierchens zu trinken, einen Joint rauche. Und manche können es so gar nicht verstehen, wenn wir nachts nach dem Besuch bei Freunden noch mit dem Baby im Bus nach Hause fahren. Das gehört sich nicht, ist schlecht fürs Kind. Solche Urteile sind schnell zur Hand. In der Regel sind sie mir aber schnurzegal. Wenn ich allerdings, wegen meiner Art zu leben, den Job verlieren würde, wäre das anders. Darüber denke ich nach, als Felder und Wiesen an mir vorüberziehen, irgendwo im Aargau. Ich werde im solothurnischen Lüsslingen- Nennigkofen aus dem Auto steigen, wo die Menschen der Kirschblütengemeinschaft ihr Zuhause gefunden haben. «Nach den letzten Berichterstattungen über uns im Fernsehen und in diversen Regionalzeitungen haben wieder zwei Leute ihren Job verloren, » sagt mir Veronika ein paar Wochen zuvor am Telefon. Und fügt hinzu: «Wir werden gemobbt, als Sekte beschimpft!» Was ist es, das diese rund 90 Männer und Frauen, die mit ihren 90 Kindern in dieser Gemeinschaft leben, an den Rand unserer Gesellschaft drängt?
Aus Brachland wird Neues
Bereits eingangs Dorf wird klar, dass hier etwas anders ist. Denn nicht wie gewöhnlich auf dem Land an einem Samstagmorgen – wo die Leute vor ihren Häuschen damit beschäftigt sind, die Hecken zu schneiden oder den Rasen zu mähen, und die Strassen tornadomässig leergefegt wirken, herrscht hier reger Betrieb. Auf einem grossen Acker wuseln zwei Dutzend Frauen, Männer und Kinder in Gummistiefeln umher, zupfen Unkraut, versenken Setzlinge in der Erde oder Stangen für die Bohnen auf dem Feld. Ab und zu hört man ein «Hey, schon lang nicht mehr gesehen!» oder ein «Ist dein Kleiner wieder gesund?». Und hier und da findet sich ein kleines Grüppchen zusammen, das über die diesjährige Anordnung der Gemüsesorten diskutiert: Wo sollen die Rüebli schon wieder gepflanzt werden? Wann ist der Mangold bereit zur Ernte? Ganz so, wie man es von den städtischen Kleinparzellen-Gärten der Urban-Gardeners kennt. Allerdings handelt es sich hier um einen professionell organisierten Betrieb, in welches jedes Genossenschafts-Mitglied laut Statuten mindestens zwölf Arbeitsstunden jährlich investieren muss. Doch diese Menschen verbindet mehr als ein landwirtschaftliches Bestreben, gesunde Biokost auf die Teller ihrer Familien zu bringen. Sie sind vor allem Verbündete im Geiste. Versuchen gesellschaftliche Normen hinter sich zu lassen und neue Beziehungsformen zu leben. Üben sich in einer befreiten Sexualität und stellen sich die Frage nach dem menschlichen Dasein immer wieder aufs Neue. Die Kirschblütengemeinschaft wurde vor rund 19 Jahren gegründet. Damals versammelte sich eine Gruppe von Menschen um den Arzt und Psychotherapeuten Samuel Widmer, um mit ihm neue Wege zu beschreiten. «Ich wusste schon als Teenie, dass mir ein Leben mit klar definierten Strukturen widerstrebt», sagt Karin, als wir am Esstisch in Veronikas Häuschen Platz nehmen. Veronika – eine Schneidermeisterin und Deutsche, wie im Übrigen rund vierzig Prozent der Kirschblütler – ist vor rund 15 Jahren zur Gemeinschaft gestossen. Nachdem die heute 40-Jährige ein Seminar von Samuel Widmer besucht und an einer psycholytischen Sitzung (Substanz-unterstützte Psychotherapie; Anmerkung der Redaktion) teilgenommen hatte, wusste sie, dass sie in dieser Gemeinschaft leben wollte. «Danach hatte ich unbewusst immer gesucht: grenzenlose Ehrlichkeit und total verantwortete Freiheit.»
Polygamie und Verantwortung
Drogen, freie Liebe, befreite Sexualität – totales Déjàvu! Doch mussten sich nicht gerade die 68er letztendlich eingestehen, dass diese Lebensform in einem grossen emotionalen Chaos endet? «Die Hippies haben das Ganze nicht zu Ende gedacht und keine Verantwortung für ihr Handeln übernommen », entfährt es Peter, einem selbstständigen Informatiker. Der Mittvierziger, im schicken Hemd und mit adrett zurückgekämmten Haaren, ist einer von drei Männern, die an Veronikas Tisch sitzen. Man merkt sofort, dass er nicht zum ersten Mal über dieses Thema nachdenkt und fügt an: «Ohne Verantwortung gibt es auch keine Freiheit.» Die Runde besteht aus drei Paaren, die nickend zustimmen. Das Setting erinnert an ein WG-Essen, bei dem übers Leben philosophiert wird. «Es ist doch so», meint Jean-Pierre, «die Eifersucht ist wie ein Curry – es besteht aus verschiedenen Gewürzen. Die Eifersucht ist deshalb immer eine Summe aus diversen Ängsten.» – «Mitunter ist die Verlustangst wohl die Grösste», sagt seine Frau Karin. «Genau, aber das muss man auch erkennen », sagt Peter und fährt fort: « Meine Frau Ulrike ist vor ein paar Wochen nach Hause gekommen und hat gemeint, dass sie sich nun einen zweiten Mann nehmen würde. Ich habe vorerst ziemlich entspannt reagiert. Nach ein paar Tagen jedoch fühlte ich mich genervt und depressiv und musste mir schliesslich eingestehen, dass ich Angst habe – so richtig Schiss, die Ulrike zu verlieren. Eine bedrohliche Situation, klar, aber würde ich mich besser fühlen, wenn meine Frau einen heimlichen Liebhaber hätte, ich es herausfände und wir uns nur noch beschimpfen würden und uns letztlich vielleicht gar trennten? Wohl kaum.» – «Solche Gefühle muss man nehmen», sagt Ulrike, die seit der Gründungszeit bei den Kirschblütlern dabei ist. Und mit «nehmen» meint sie: das Gefühl nicht ausleben, es verstehen, bis es sich auflöst. Oder so.