Schicksal und Gespenster?
Woran liegt das? Weshalb zeigen viele Familien Muster wie Zebras Streifen? Liegt es an den Genen? Der Erziehung? Am Zufall? Oder gibt es tatsächlich so etwas wie Schicksal, ein Familiengespenst, das nicht nur in alten Schlössern, sondern auch in Reihenhäusern mit Einbauküche spukt?
Fred Berger, Professor für Erziehungswissenschaft mit Schwerpunkt Generationenverhältnisse an der Universität Innsbruck, hats nicht so mit Gespenstern. Selbst das Wort «Schicksal» ist ihm zu adipös. «Aber Schicksalsschläge, ja, die gibt es. Und einen familientypischen Umgang mit Schicksalsschlägen – den gibt es natürlich auch.» Die Art und Weise mit den Schlaglöchern des Lebens umzugehen, Realität und Probleme aufgrund bestimmter Wertvorstellungen in die ein oder andere Richtung zu deuten, die werde zum Teil von Generation zu Generation weitergegeben. «International gut erforscht ist das etwa bei Scheidungskindern», sagt Fred Berger. «Scheidungskinder werden – statistisch gesehen – deutlich häufiger selber wieder geschieden als Kinder aus sogenannten intakten Familien. Das haben wir mit unserer über 30 Jahre dauernden Zürcher LIFE-Studie belegen können.»
Auch eine weitere Untersuchung der Universität Düsseldorf zeigt, dass alleinerziehende Mütter doppelt so oft wie andere Mütter aus Scheidungsfamilien stammen. Kommt auch der Vater aus einer Trennungsfamilie, steigt das Risiko weiter. «Gründe für diese ‹Intergenerationale Transmission› gibt es viele», erklärt Berger. Zunächst trennten sich heutzutage weitaus mehr Paare als früher, weil etwa das Stigma «geschieden» keines mehr sei und Frauen häufiger als früher finanziell auch ohne «Ernährer» ganz gut bestehen könnten. Für die «soziale Vererbung» von Scheidung spiele dann insbesondere eine Rolle, was Kind und Heranwachsendem in der eigenen Familie vorgelebt worden sei, welches Vorbild die Eltern gegeben hätten im Umgang mit Konflikten, beim Vertragen, in Diskussionen und bezüglich der Einstellung zu Krisen. «Da stehen sich – vereinfacht ausgedrückt– zwei Positionen gegenüber», so Berger: «‹Durchhalten und Probleme zu lösen versuchen› gegen ‹einen schnellen Schlussstrich ziehen›.» Oder wie es Tanja Stelzer in der «Zeit» über ihre Scheidungskind-Erfahrung schreibt: «Ja, mit Streit können wir nicht so gut. Ja, wir haben Mühe, in der Liebe das richtige Tempo zu finden, wir lassen uns zu schnell auf jemanden ein oder gar nicht.»
Manche Redensart ist ausgeleiert, staubig, zu Tode geritten – und trotzdem wahr. «Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm» ist so eine. Denn wenn sich auch jede neue Generation für wahnsinnig innovativ, originell, einzigartig und fortschrittlich im Umgang mit ihrem Nachwuchs hält – richtig ist: Verlässlich wie der Brauch, alle Jahre wieder die fettige Weihnachtsgans aufzutischen, vererbt sich innerhalb von Familien auch der Erziehungsstil. Und mit ihm Sätze, die man schon bei den eigenen Eltern gehasst hat und mit denen man jetzt fröhlich seine Kinder nervt: «Erst die Arbeit, dann das Vergnügen», «Indianerherz kennt keinen Schmerz» oder «Das interessiert mich üüüüüberhaupt nicht, dass der Kevin auch einen 3er hat» … Wem jetzt spontan noch vier eigene pädagogische Quotes aus der Ahnengalerie einfallen, ist in guter Gesellschaft. Belegen doch sämtliche Studien: Wie erzogen wird, ist Familientradition. Zum Autoritären neigende Eltern werden – dem gesellschaftlichen Wandlungsprozess hin zu liberalerer Erziehung zum Trotz – Kinder haben, die selbst eher autoritär erziehen. Lockere Eltern werden locker erzogene Enkel bekommen, und die meisten werden wahrscheinlich ausserdem ihre politische Meinung vererben. Jemand wie der deutsche Vizekanzler und Sozialdemokrat Sigmar Gabriel, der trotz eines überzeugten Nazis als Vater neulich einem Aufmarsch rechten Pöbels öffentlich den Mittelfinger zeigte, gehört zur Minderheit. Wird doch ein Kind hinsichtlich seiner Wertorientierungen nicht nur von seinen Eltern geprägt, indem es miterlebt und mithört, sondern politische Orientierungen scheinen sich in Gene und Gehirn einzuschreiben. Mit einer Trefferquote von über 80 Prozent lässt sich etwa voraussagen, welche Partei eine Person wählen wird, beobachtet man deren Gehirnaktivität. Das behaupten zumindest Wissenschaftler der University of California in San Diego und der britische Forscher Ryota Kanai. Konservative zeigten im Magnetresonanztomografen eine vergrösserte Amygdala, die für Gefühle wie Angst und Bedrohung zuständig ist. Linksliberale verfügten über mehr graue Hirnmasse im vorderen Gyrus cinguli: verantwortlich für die Fähigkeit, mit Unsicherheit und Konflikten umzugehen.
Sucht man also nach Familienmustern, scheinen die Gene über Nasenform, Körpergrösse und Haarfarbe hinaus ein Wörtchen mitzureden. Manchmal ein lautes (siehe Interview mit Isabelle Mansuy).
«Ach, die ewige, uralte Anlage–Umwelt-Diskussion …», sagt Fred Berger. «Bei Verhaltensweisen wird man wohl noch lange nicht endgültig klären können, was vererbt und was anerzogen ist.»