Als ich meiner späteren Schwiegermutter zum ersten Mal begegne, ist ihr Sohn gar nicht dabei. Mein heutiger Mann und ich waren damals gerade frisch ein Paar und wollten für einige Tage nach Portugal, wo ich seine Eltern kennenlernen würde. Am Flughafen in Genf merkte er, dass sein Pass abgelaufen war. Die Maschine der Fluggesellschaft, die ihm eine Reise in sein Heimatland trotzdem erlaubte, würde etwas später abheben als meine. Ich flog alleine vor. Eine Flugzeit von zweieinhalb Stunden lang beugte ich mich über einen Sprachführer, der mir «Portugiesisch – Mitreden können in fünf Stunden» versprach. Ich war nervös. In Porto würde mich eine Unbekannte in Empfang nehmen, deren Sprache ich nicht teilte.
Am Flughafen angekommen erkenne ich Angela sofort. Ich habe sie schon einige Male auf Fotos gesehen, eine Frau mit freundlichem Gesicht und gepflegter Frisur, eine dieser Frauen, bei der sich die paar Kilos, die über die Jahre hinzugekommen sind, harmonisch über den Körper verteilen. Sie trägt eine weisse Leinenhose und ein fuchsiafarbenes Oberteil, dazu eine Kette aus grossen, weissen Plastikperlen und eine passende Tasche. Ich erinnere mich, wie mir mein Mann schon bei unserem zweiten Treffen erzählt hat, dass sie ihm auch als kleinen Buben stets Kleider angezogen hatte, die bis ins Detail zueinander passten.
Die Eltern meines Mannes nehmen mich an diesem Tag auf wie eine zu gross geratene Adoptivtochter aus einem fremden Land. Zu dritt sitzen wir am Küchentisch, an dem mein Mann früher seine Hausaufgaben gemacht hat. Wir essen zu Abend und als es eindunkelt, fahren die beiden mich in ihrem alten Seat spazieren. Sie zeigen mir Sehenswürdigkeiten der Region, den imposanten Leuchtturm, die gestreiften Strandhäuschen der Costa Nova. Wir trinken Kaffee, erst bei der einen Tante meines Mannes, dann bei der anderen, dann bei der Grossmutter. Der Alltag der drei Schwestern und ihrer Mutter ist dicht ineinander verwoben: Sie leben nur einen Steinwurf voneinander entfernt, alle haben ihr Berufsleben in derselben Porzellanfabrik verbracht. Es ist eine Familie, der jegliche Allüren fehlen, es scheint keinen unsichtbaren Zaun zu geben, den ich erst einmal überwinden muss, keine Schablone einer idealen Schwiegertochter, mit der ich ständig abgeglichen würde.
Das ist nicht selbstverständlich. Der Konflikt mit der angeheirateten Verwandtschaft ist so alt wie die Ehe selbst und findet sich in fast allen Kulturen. Laut der britischen Psychologin Terri Apter erleben drei Viertel aller Paare in den USA die Beziehung zu den Schwiegereltern als eher schwierig, man kann davon ausgehen, dass das auch in Europa nicht anders ist.
Und eigentlich ist es ja auch kein Wunder. Da werden aus fremden Menschen nicht einfach erst einmal Nachbarn oder Arbeitskollegen und dann vielleicht eines Tages gute Freunde. Nein, da verwandeln sich nahezu Unbekannte ratzfatz in Verwandte. Und so kramt man denn das Skript hervor, an das man sich bei der eigenen Familie hält – dieses im Unterbewussten verstaute Handbuch, das einem sagt, wie weit man in einem Streit gehen darf, wie viel körperliche Nähe selbstverständlich ist, welche Scherze geschmacklos sind – und findet, dass man es auch auf die neuen Verwandten anwenden können müsste. Schliesslich sind wir ja jetzt alle eine Familie, oder? Dabei ist der eigene Verhaltenskodex natürlich nicht universal. Missverständnisse und Kränkungen haben leichtes Spiel.
Gefühle für die Enkelkinder
Doch das ist erst der Anfang. «In der neuen Familienkonstellation werden Loyalität, Liebe und bisherige Machtverhältnisse in Frage gestellt», sagt Apter. Manche Mutter fragt sich vielleicht, welche Bedeutung sie im Leben ihres erwachsenen Sohnes fortan haben wird und ob es in seinem Zuhause noch einen Platz gibt für sie. Schliesslich hängt der Zugang nun zu einem gewissen Grad auch von dessen Partnerin ab, ist es doch in den meisten Fällen immer noch die Frau, die die Verwandtenbesuche der Familie organisiert und bestimmt, ob man auch unangemeldet vor der Türe stehen darf. Die Schwiegertochter hingegen fürchtet vielleicht, dass ihr Mann sich bei jedweder Kritik an seinen Eltern auf deren Seite schlägt.
Aber halt! Haben wir uns denn mit dem Eintritt ins Erwachsenenleben nicht endgültig dem Einfluss unserer Väter und Mütter entzogen und führen nun ein unabhängiges Leben als Kleinfamilie? Für Apter ist diese Vorstellung ein Mythos, der sich erstaunlich hartnäckig hält. «Eines der bestgehüteten Geheimnisse unserer Zeit ist, dass die totgesagte Grossfamilie sich eigentlich bester Gesundheit erfreut.» Denn natürlich kümmert Eltern das Wohlergehen ihrer Söhne und Töchter auch dann, wenn ihre Kinder vierzig Jahre oder älter sind. Und ebenso reagieren wir selbst als längst der Pubertät Entwachsene noch pikiert, wenn unsere Eltern uns kritisieren. Nicht zuletzt sind wir Kinder die wichtigsten Bezugspersonen unserer Eltern, wenn diese ins Alter kommen. Wie oft es dann die Schwiegertochter sei, die sich um ihre Schwiegereltern kümmere, habe selbst sie erstaunt, schreibt die Familienexpertin Apter in ihrem Buch «What do you want from me?».