Ein grosses mediales Thema waren die Magglingen-Protokolle, in denen der physische und psychische Missbrauch von Kindern und Jugendlichen im Kunstturnen publik und angeprangert wurde. Hinter den Misshandlungen können unmöglich bloss bösartige Trainer*innen gesteckt haben, sondern auch Eltern, die über Jahre die Augen verschlossen hielten …
Natina: Da lief tatsächlich lange vieles schief. Aber klar: Wenn man wegschaut, ist man mitschuldig. Und es ist tatsächlich ein Elend, dass es Eltern gab, die die Missstände wissentlich ignorierten, womöglich aus eigenen Ängsten heraus.
Von welchen Ängsten sprichst du?
Natina: Eltern befürchten, ihr Kind werde von den Trainern oder vom Verband benachteiligt, wenn sie kritische Fragen stellen. Das ist wie bei Missbrauch innerhalb der Familie: Da haben die Zeugen von Übergriffen auch Angst, sich zu äussern, weil sie sich vor negativen Konsequenzen für sich selber fürchten. In meinen sportärztlichen Sprechstunden sehe ich Kinder, die etwa in eine Magersucht getrieben, oder die dermassen in eine Dehnung gedrückt werden, dass es zu Muskelfaserrissen und Rückenverletzungen führt. Die Eltern kommen dann mit ihren Kids zu mir und wollen Physiotermine. Die Kinder weinen, somatisieren, klagen über Kopfweh, verschliessen sich, haben Angst vor der Trainerin oder dem Trainer – während die Eltern einen Tunnelblick haben und nichts anderes verlangen als Physioverordnungen, Ernährungsberatung und Mentalcoaching. Anstatt sich laut und deutlich zu wehren gegen das übergriffige Verhalten der Trainierenden.
Und wie gehst du mit den betreffenden Eltern um?
Natina: Ich reagiere konfrontativ, frage sie, ob sie sich auch schon überlegt haben, dass die Symptome des Kindes möglicherweise ein Zeichen sind. Bei einigen Eltern bricht ein Damm, andere kehren mir wütend den Rücken zu und kommen nicht wieder.
Aline: Als Sportmutter weiss ich, dass es nicht sein kann, dass man das Leiden des Kindes nicht mitbekommt. Für mich ist dieses Verhalten unverständlich. Wenn ich Kenntnis davon habe, dass ein Trainer oder eine Trainerin bekannt dafür ist, die Kinder missbräuchlich zu drillen, verbiete ich meinen Kindern, bei dieser Person zu trainieren. Als Mentalcoach spreche ich solche Themen mit den Eltern an – was natürlich auch zur Folge haben kann, dass ich die Familie nie mehr sehe.
Was ist, wenn Sporteltern ein schlechtes Gefühl haben bezüglich des Trainingsumfeldes ihres Kindes?
Aline: Wenn Kinder sich beschweren, bedeutet das schon Stufe Rot, dann ist es fast schon zu spät. Sie trainieren in Peer Groups mit enorm hohem Leistungsdruck. Oft ist es halt so, dass ein Kind, das aufmuckt, vom Trainer zur Seite geschoben wird. Sobald ein Kind nicht mehr gerne zum Training geht, ist es als Eltern wichtig, nachzufragen, was genau der Grund ist. Bei Missständen kann man sich auch bei der Ombudsstelle Sportintegrity.ch (auch anonym möglich) melden.