Gesundheitskompetenz fehlt
Berufstätige Eltern müssen also einen Plan B entwickeln, brauchen das sprichwörtliche Dorf, um ihre Kinder grosszuziehen. Genau dieses fehle heute zunehmend, findet Kinderarzt Roth. Das führe unter anderem dazu, dass Eltern heute viel schneller zu ihm kämen als früher. Eine Entwicklung, die auch Heinrich Haldi in seiner 30-jährigen Praxistätigkeit festgestellt hat. «Ich schätze, dass 60 bis 75 Prozent aller Konsultationen in der Kinderpraxis nicht wirklich nötig wären.» Roth zitiert dazu die Redewendung: «Ein grippaler Infekt dauert ohne Behandlung sieben Tage, wenn man in die Praxis kommt, eine Woche.»
Das Fehlen von Grosseltern in der Nähe beispielsweise, die Vertrauen und Wissen über Hausmittel weitergeben, ist ein Teil, der zu dieser Entwicklung beiträgt. «Viele Eltern sind heute total verunsichert», sagt Haldi. Den Hauptgrund dafür sieht er im Internet. Auch Stefan Roth verortet diese Problematik bei Dr. Google: «Es gibt Eltern, die geben Kopfschmerzen und Übelkeit ein, und landen dann direkt beim Hirntumor.»
Einen weiteren Faktor sehen die Befragten in der schwindenden gesellschaftlichen Akzeptanz des Krankseins. «Wir haben keine Zeit dafür», findet Stefan Roth. Dem stimmt auch Medizinhistorikerin Iris Ritzmann zu. Sie hat als Professorin an der Universität Zürich unter anderem zum Thema Kinder und Kranksein geforscht. Heute ist sie selbstständig und führt eine Beratungsfirma. «Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, die sich in den letzten Jahrzehnten massiv beschleunigt hat», sagt sie. Die Menschen in der westlichen Welt seien heute vermutlich nicht weniger krank als früher. Doch das Spektrum habe sich weg von Infektionskrankheiten hin zu Krebs, Kreislauferkrankungen und psychischen Krankheiten verschoben. «Immer mehr medizinisches Wissen fliesst in unseren Alltag und unser Denken ein.» Gesundheit gelte als sehr hohes Gut, dem extrem viel untergeordnet werde. Vor diesem Hintergrund sei es beispielsweise in der Coronapandemie möglich gewesen, dass das staatliche Gesundheitswesen in intimen Bereichen in das menschliche Verhalten eingreifen konnte, sagt Iris Ritzmann.
Trotz dieser Aspekte sieht Stefan Roth die Coronapandemie als «Riesenchance, die wir als Gesellschaft verpasst oder nicht begriffen haben». Im Frühling 2020 sei klar gewesen: Wer krank ist, bleibt zu Hause. «Heute sind wir wieder im gleichen Tramp wie vorher – Kranksein liegt nicht drin», sagt auch Heinrich Haldi. Die Pandemie hat eine abstruse Zweiteilung mit sich gebracht: Wer Covid hat, bleibt zu Hause. Wer anderweitig hustet und niest, nicht. «Doch gerade Kinder brauchen Zeit, um krank zu sein und in Ruhe wieder gesund zu werden», sagt Roth. Sie würden das Kranksein in der Regel gut aushalten – viele Eltern allerdings nicht. Er rät ihnen: «Hört auf eure Kinder und habt Vertrauen, dass sie wieder gesund werden.»