Die Psychologie spricht in diesem Fall von «Gender Disappointment», Geschlechtsenttäuschung. Der Begriff beschreibt die unüberwindbare Enttäuschung und Trauer über das Geschlecht des Kindes.
Sibil Tschudin, Leitende Ärztin der Frauenklinik des Universitätsspitals Basel, weiss aus ihrer Praxis, dass die Übergänge zwischen dem ersten, normalen Schock oder Erstaunen und der Geschlechtsenttäuschung fliessend sind: «Besonders aufmerksam muss man als behandelnde Ärztin oder Arzt werden, wenn das Paar seine Enttäuschung ausdrückt und darüber hinaus das Resultat nicht akzeptieren möchte und in diesem Zusammenhang zum Beispiel auf weitere Untersuchungen beharrt. Wenn eine Verbissenheit auffällt, dann befinden wir uns bestimmt nicht mehr im normalen Rahmen.»
Ein Sohn zum Fussballspielen
Auch wenn der Trend in unserem Kulturkreis klar in die Richtung geht, mit klassischen Geschlechterrollen zu brechen, hegen noch immer viele unter uns klare Vorstellungen darüber, was ein Mädchen oder ein Junge kann oder soll, oder eben nicht. Der Vater wünscht sich ein Kind zum Fussballspielen und denkt dabei automatisch an einen Buben, so ein Beispiel.
Jedes Kind ist ein Individuum
Das Ungeborene auf seine Geschlechtsteile reduzieren und dabei seine Persönlichkeit vergessen, darin sieht Tschudin eines der Hauptprobleme im Zusammenhang mit Gender Disappointment: «In solchen Fällen kommt das mangelnde Bewusstsein zum Vorschein, dass es sich bei jedem Kind um ein Individuum handelt. Wer einen kleinen Menschen auf sein X- oder sein Y-Chromosom reduziert, wird seinem Kind nicht gerecht.»
Hinzu komme das mangelnde Bewusstsein dafür, dass man nur bedingt Einfluss auf die Charakterentwicklung seines Kindes nehmen kann: «Wir können vieles in unsere Kinder projizieren und uns Verschiedenstes wünschen. Aber der wesentliche Punkt ist doch, dass sich jeder Mensch zu sich selbst entwickelt. Man muss sich von seinen eigenen Vorstellungen distanzieren können, ohne traurig darüber zu sein, wenn nicht alles nach den eigenen Visionen verläuft. Das bezieht sich besonders aufs Kinderkriegen, aber auch generell aufs Leben.»
Praxis der «Sex Selection»
Um der 50-Prozent-Chance, das «falsche » Geschlecht zu erhalten, aus dem Weg zu gehen, gibt es im Ausland die Möglichkeit, gezielt mit einem Jungen oder einem Mädchen schwanger zu werden: «Sex Selection», Geschlechtsselektion heisst der Trend, der beispielsweise in den USA erlaubt ist. Dabei zahlen Paare je nach Methode zwischen 800 und 20 000 Dollar, um das Geschlecht ihres Kindes wählen zu können.
Abtreibung wegen Geschlecht
In anderen Kulturkreisen, wo Buben als wertvoller als Mädchen erachtet werden, wird das «falsche Geschlecht» nicht selten abgetrieben. Laut WHO ist diese Praxis in China und Indien üblich, was mit den Jahren dazu geführt hat, dass aufgrund der starken Bevölkerung dieser Länder global ein massives Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern entstanden ist. Beide Länder zusammen zählen zirka 80 Millionen Männer zu viel im Verhältnis zu Frauen.
Man könnte meinen, dass auch bei uns betroffene Eltern aus einem Kulturkreis stammen, der das eine Geschlecht dem anderen vorzieht. Doch laut Tschudin kann man Geschlechtsenttäuschungs-Betroffene hierzulande keinem klaren Kulturkreis zuordnen. Es käme überall vor.
Geschlecht nach 12. Woche verkünden
Abtreiben, weil einem das Geschlecht nicht passt, ist in der Schweiz unzulässig. Damit es erst gar nicht möglich ist, sind Gynäkologen darum bemüht, das Geschlecht erst nach Ablauf der Fristenlösung zu verkünden.
Tschudin sieht in der Geschlechtsselektion neben dem moralischen Problem auch ein Psychologisches: «Wer denkt, dass sich das Problem mit der gezielten Geschlechtswahl löst, der irrt.»
Biografische Probleme
Wer eine von der Norm abweichend starke Geschlechtspräferenz hegt und nicht in der Lage ist, sich auf die andere Eventualität einzulassen, müsse die Ursache dieses Denkens bei sich selbst suchen: «Meist haben diese Menschen eine problematische Vorgeschichte und sind mit biografischen Problemen belastet. Die eigene Beziehung zu einem Elternteil kann ausschlaggebend sein oder traumatische Erlebnisse. »
Auch wenn eine derart dramatische Reaktion auf das Geschlecht des Kindes für die meisten Menschen befremdend sei, müsse man als Ärztin oder als Arzt dennoch genau hinhören und eine Vertrauensbasis schaffen, welche es dem Patienten erlaube, frei über sein Empfinden zu sprechen. «Bei Gender Disappointment steckt immer ein tieferes Problem dahinter. Es ist deshalb besonders wichtig, dass betroffene Eltern Unterstützung kriegen.»