Kinderjahre prägen Familienworte
Familiensprache wächst aber nicht nur in Familien, sondern auch unter Freundinnen und bei Paaren, in Cliquen oder sogar im Kollegenteam. «Gerade die Anfänge einer Beziehung oder Lebensphase sind ein guter Nährboden», stellt die Sprachwissenschaftlerin fest. Auch die ersten Jahre eines Kindes seien eine solche Zeit. Familiensprache gedeiht, wo wir intensiv Zeit miteinander verbringen, wo sich die Weichen stellen, ob aus Bekanntschaft mehr wird, Liebe oder Freundschaft. Wo Nähe erst im Entstehen begriffen ist, sind gemeinsame Worte nicht zuletzt ein Weg, Zusammengehörigkeit zu bekunden, ohne sich ganz dafür zu entblössen.
Natürlich haben auch Nadine und ich unsere Wendungen, die nur uns allein gehören. Es reicht, einen Satz mit einem «Und überhaupt ... » und einem gewissen Tonfall einzuleiten: Schon kehren wir zurück ans erste Semester an der Uni, zu all den grossen Gefühlen dieser Zeit, dem Beginn unserer Freundschaft. Und zugleich, ja, erinnern uns die zwei Worte jedes Mal daran, wie lange wir schon darüber lachen, wie viele Jahre wir einander bereits beim Wachsen zusehen und manchmal beim Verzweifeln.
Wortkreationen sind intim
Weil sie so etwas wie emotionaler Beziehungskitt sind, greifen wir gerne auch auf unser privates Vokabular zurück, wenn der Haussegen mal schief hängt. Es ist dann ein Vortasten, wie es um die Gefühlslage des anderen steht. Es ist ebenso ein Friedensangebot, sich wieder auf das zu besinnen, was verbindet, statt auf das, was uns trennt. Ein Angebot, das auch ausgeschlagen werden kann: So beschreibt Gordon in ihrer Forschungsarbeit ein amerikanisches Paar, zu dessen Sprachrepertoire unter anderem eine ganze Reihe von fremdsprachigen Akzenten gehört. Als der Mann nach einem Streit in Deutsch gefärbtem Englisch das Gespräch aufnimmt, steigt seine Partnerin aber weder darauf ein noch lacht sie wie sonst darüber. Die Botschaft ist klar: Für Spielerisches ist es noch zu früh.
So reich Familienwörter an Emotionen und Erinnerungen sind, sind sie doch gleichzeitig erstaunlich fragil. Sie sind nicht nur bestimmten Menschen vorbehalten, sondern auch nur gewissen Situationen. Setzen wir sie im falschen Moment ein, wirken sie peinlich oder lächerlich, wir fühlen uns blossgestellt. Vielleicht halten wir deshalb so schützend unsere Hand auf die persönlichsten davon. «Und dann haben Dani und ich noch so ein paar geheimsprachmässige Ausdrücke», schreibt mir eine andere Freundin, nachdem sie einige Beispiele aus ihrem Familienwortschatz aufgezählt hat. Ich hake nicht weiter nach; ich glaube zu verstehen, warum sie diese Begriffe nicht ausleuchten will, die nur ihr und ihrem Mann gehören. Laufen wir nicht Gefahr, für uns so wertvolle Worte der Banalität preiszugeben, wenn wir sie ans Licht zerren ? Denn egal, in wie vielen Einzelheiten wir ihre Geschichte auch herzuleiten versuchen – das Wesentliche lässt sich damit nicht zu Tage fördern.
Wie intim unsere individuellen Wortkreationen sind, zeigt nicht zuletzt das Befremden, das wir empfinden, wenn jemand anderes sie benutzt. Nur weil ich meinen Jüngsten gerne Schnöbbeli nenne, steht das anderen lange nicht zu. Und doch: Wie könnte ich dieses Recht verteidigen, ohne dabei kleinlich zu wirken ?
Wörter, die Generationen überdauern
Manche Familienwörter halten nicht nur ein Leben lang, sie überdauern gleich mehrere: So erzählt mir Nadine, wie ihr Grossvater jeweils nach einem langen Arbeitstag befunden habe, er fühle sich « nührig und naaht ». Genau das habe ihm, er war Arzt, nämlich ein Patient einmal auf die Frage nach dessen Befinden hin geantwortet. Müde und matt dürfte der Mann gemeint haben, dessen Sprachvermögen durch eine Hirnschädigung beeinträchtigt war; so genau weiss das niemand mehr. Nadines Eltern übernahmen die Wendung später auf jeden Fall so selbstverständlich, dass auch sie sie fraglos verwendete. «Es hat ziemlich lange gedauert, bis ich begriffen habe, dass man nührig und naaht nicht im Duden findet», erzählt sie lachend. Natürlich hat der Begriff längst auch Eingang ins Vokabular ihres Mannes gefunden, kürzlich hat sie ihn sogar aus dem Mund ihres Sohnes gehört. «Für mich gibt es bis heute keine treffendere Bezeichnung dafür, wie ich mich nach einem strengen Tag fühle.»