Von der Erinnerung in die Realität
Raus aus dem Kopfkino, zurück ins Delphys, wie es heute ist. Vor zehn Jahren zog das Geburtshaus in grössere Räumlichkeiten an der Kalkbreite in Zürich. Eingebettet in eine urbane Überbauung, mit Blick auf die Hochhäuser des Locherguts, erstreckt es sich nun über drei Etagen. Zwei Gebärzimmer, fünf Wochenbettzimmer, Wohn- und Essbereich, Küche, Kurs-, Beratungs- und Therapieräume – alles behaglich eingerichtet mit restaurierten Vintagemöbeln aus dem Brockenhaus und modernstem Equipment.
Lucia Martin, 34, arbeitet seit sechs Jahren hier und ist eine von 18 Hebammen. Jetzt sitzt die sympathische junge Frau an einem Holztisch im Besprechungsraum und erklärt, was eine Geburt in einem Geburtshaus wie das Delphys von einer Spitalgeburt unterscheidet. «Wir betrachten den Weg vom Kinderwunsch über Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Stillzeit als fliessenden Prozess», erklärt Lucia. Dabei fokussiere man auf das Stärken der Ressourcen und das Wohlbefinden der ganzen Familie. Der Einbezug der Partner:innen und älterer Geschwister ist selbstverständlich.
Das Herzstück des Geburtshaus-Konzeptes ist die 1:1-Betreuung. Die zuständige Hebamme begleitet ein Paar, eine Familie oder eine allein gebärende Frau in einer 12-Stunden-Schicht. Und bringt etwas vom Wertvollsten mit: Zeit. Sie richtet sich nach den Bedürfnissen der Familie, nimmt Anteil, begleitet mit fundiertem Wissen und Präsenz. Mit Interventionen hält man sich zurück. «Wir vertrauen auf das Wissen, das tief im Körper jeder Frau angelegt ist, den Geburtsverlauf eigenverantwortlich und aktiv zu gestalten», heisst es im Leitbild des Delphys.
Auch Lucia spiegelt dieses Urvertrauen wider, wenn sie sagt: «Wir gehen immer vom Gesunden aus.» Das bedeutet, dass weder die Gebärende noch der Partner oder die Partnerin zu etwas gedrängt werden. «Wir kommunizieren anders als im Spital – wir empfehlen eine Massnahme, aber wir ordnen sie nicht an.» Dabei wird die Schulmedizin keineswegs ausgeklammert, sondern mit alternativmedizinischem Wissen ergänzt. Nach der Geburt etwa stehen in Geburtshäusern, genau wie im Spital, Stoffwechselscreening, Hörtest, das Messen der Sauerstoffsättigung oder die Vitamin-K-Prophylaxe zur Verfügung. Wenn gewünscht. «Aber nicht als Programm, sondern als Empfehlung», sagt Lucia.