Als Gehörlose ausgeschlossen
Denn in der Pubertät, zurück in der Volksschule, bildeten sich Peergroups und Nadia realisierte, dass sie nirgendwo dazu gehörte. «Es fühlte sich an wie ein Eimer kaltes Wasser über dem Kopf», beschreibt sie ihre Gefühle. Von da an wusste sie: Sie musste für sich und andere Gehörlose kämpfen. Sie schloss die Schule ab, lernte Topfpflanzen- und Schnittblumengärtnerin, bildete sich weiter und ist heute studierte Sozialpädagogin. «Zuerst kümmerte ich mich um Pflanzen, jetzt um Menschen!», lacht sie. Obwohl sie die Gebärdensprache erst als Erwachsene lernte, spricht sie diese heute perfekt.
Gibt es eigentlich so etwas wie eine politisch korrekte Bezeichnung für nicht hörende Menschen? Gehörlose. Wobei der Ausdruck eigentlich bedeutet, dass jemand rein gar nichts hört. Jene Menschen mit Hörrest nennen sich selbst Schwerhörige. Oder Hörbeeinträchtigte. Oder Hörgeräteträger* innen. Niemals aber: Taubstumme.
Dieser Begriff stammt aus dem 18. Jahrhundert – und verletzt. Denn Gehörlose oder Hörbeeinträchtigte sind nicht stumm. Ihre Stimmbänder sind intakt und sie können sich sehr wohl lautsprachlich ausdrücken. Sie sprechen vielleicht etwas anders, meist aber gut verständlich. «Ich wurde schon gefragt, ob ich eine Zahnspange trage», erzählt Nadia.
Egal mit wem sie spricht, Nadia wendet sich dem Gegenüber immer zu und schaut ihm in die Augen. Denn Gehörlose hören mit den Augen. Umso besser, wenn auch Hörende frontal und deutlich mit den Lippen artikulieren. Aber trotz der Fähigkeit, Lippen zu lesen, verstehen Gehörlose damit nur 30 bis 60 Prozent des Gesagten. Den Rest erschliessen sie aus dem Zusammenhang. Überflüssig zu erwähnen, welch schwierige Zeiten für Gehörlose während der Corona-Maskenpflicht herrschten.
Was die Zukunft bringt?
Auch Zoe ist alles andere als stumm. Sie ruft ihre Brüder – mit ganz leicht verwischtem Klang – beim Namen oder wehrt sich lautstark, wenn sie genug hat vom Memory-Spiel. Ihre Mutter Salome ist froh, dass ihre Kleine von den beiden Jungs schon früh kräftig «beschallt» wurde, wie sie es nennt. «Dadurch können wir für Zoe das Beste herausholen». Ob Zoe dereinst die öffentliche Schule besuchen kann, wird sich zeigen. «Ein bisschen Angst davor habe ich manchmal schon», sagt Salome, «ich hoffe, sie wird nicht gehänselt wegen ihrer nicht perfekten Lautsprache.»
Ein Kind mit einer Einschränkung aufzuziehen, kostet eine Extraportion Kraft. Deshalb sind Salome Wigger Kinder auf dem Spielplatz lieber, die «fadegrad» heraus fragen, was Zoe für ein komisches Gerät über dem Ohr trage. Das sei Zoes Kopfschmuck und helfe ihr, etwas zu hören, sagt sie dann jeweils.
Flüstern hingegen Erwachsene hinter Salomes Rücken, trifft sie das mehr. Da entscheidet sie je nach Tagesverfassung, ob sie sich umdreht und selbstbewusst über Zoes Beeinträchtigung aufklärt, oder ob ihr dazu gerade der Nerv fehlt. Um sich auszutauschen, unterhält Salome einen Chat mit fünf anderen Familien, alle mit einem Kind mit Höreinschränkung. Da kann sie den kleinen Ärger loswerden oder bei technischen Problemen mit dem Cochlea-Implantat um Hilfe bitten.