Viele empfinden Mathe nicht als «Lernfach» wie Französisch, wo man Wörtchen büffeln muss. Mathe «kann man oder kann man nicht» ... Gibt es ein Mathe-Gen?
Zwei bis fünf Prozent eines Jahrgangs haben gravierende Probleme mit dem Verarbeiten von Zahlen. Sie haben keinen Plan, was eine Zahl bedeutet. Man spricht von Dyskalkulie. Bei allen anderen aber gilt: Mathe ist lernbar! Aber klar, es gehört auch Intelligenz dazu und ein anregendes Umfeld, in dem Mathematik gebraucht und wertgeschätzt wird.
In anderen Fächern scheint der Respekt davor aber weniger ausgeprägt als beim Rechnen, warum?
Mathematik ist kumulativ aufgebaut. Wenn Sie die Addition nicht verstanden haben, wer verstehen Sie auch die Subtraktion, Multiplikation und Division nicht. Bei diesem kumulativen Aufbau rächen sich frühe Lücken.
Wer in der zweiten Klasse schlecht im Rechnen ist, wird es für immer bleiben?
Nein, aber es ist eben wichtig, keine grossen Lücken entstehen zu lassen. Man muss permanent dranbleiben. Bei Primarschulkindern können beispielsweise schon bestimmte Begrifflichkeiten problematisch sein: Wenn ein Kind einen Lehrerwechsel hat, die erste Lehrerin von Plus-Rechnen und der darauffolgende Lehrer von Und-Rechnen spricht, kann das für ein Kind verwirrend sein. Aber grundsätzlich ist bei kleinen Kindern die Faszination von Zahlen noch sehr hoch und die Forschung besagt, dass Mathe bis zur dritten Klasse sogar zu den Lieblingsfächern gehört.
Trotzdem: Vielen Kindern bleiben der Sinn und Zweck der Mathematik oft zeitlebens fremd. Muss die Didaktik von Grund auf neu gedacht werden?
Auf wissenschaftlicher Ebene passierte der Quantensprung bereits in den frühen 80er-Jahren. Damals begann man, den Fokus stark auf das Verstehen der Mathematik zu legen, nicht mehr nur aufs monotone Auswendiglernen. Seither ist es in der Didaktik-Forschung Standard, dass Mathe verstanden werden muss.
Was meinen Sie genau mit «Mathe verstehen»?
Da ich ein Schokoladen-Junkie bin, erkläre ich es anhand einer Tafel Schokolade und folgender Multiplikation: 6 mal 4 ergibt zwar gleich viel wie 4 mal 6 – trotzdem sind die beiden Rechnungen verschieden und «fühlen» sich auch verschieden an. Eine Schoggi-Tafel kann man leicht in 4er-Reihen brechen. Dieselbe Tafel in 6er-Reihen zu brechen, ist komplizierter und es gibt ein Gebrösel.
Die Mathe sollte also anschaulicher und alltagstauglicher unterrichtet werden?
Eine Lehrperson kann beispielsweise mit der Klasse vor der Schulreise berechnen, welche Route die bessere ist oder wann Pausen gemacht werden. So werden Zahlen spielerisch zueinander in Bezug gebracht. Das Einmaleins auswendig zu lernen, macht durchaus Sinn, aber nicht von Beginn weg und nicht ohne anschaulichen Kontext.
Kaum wechselte bei meinem Sohn in der Kanti der Mathelehrer, sprang seine Zeugnisnote von einer 4,5 auf eine 6. Wie wichtig ist die Lehrerperson, um Spass an Mathematik entwickeln zu können?
Die emotionale Beziehung der Lehrperson zum Kind spielt eine sehr wichtige Rolle! Im Idealfall spürt das Kind die Freude des Lehrers oder der Lehrerin am Stoff. Relevant ist aber auch deren Fähigkeit, erklären zu können. Eine Lehrperson muss ein Repertoire haben, um einen Sachverhalt noch einmal anders und besser schildern zu können, wenn ein Kind den Inhalt nicht versteht.
Was aber, wenn Primarlehrpersonen selber ein «Mathematik-Trauma» mitbringen?
In der Ausbildung an den Pädagogischen Hochschulen wird heute explizit an der eigenen Mathematik-Biografie gearbeitet. Es gibt viele Studierende, die sehr reflektiert sind und erzählen, dass sie Mathe zwar gehasst haben, diese Abneigung aber auf keinen Fall den Schülern und Schülerinnen weitergeben wollen. Sie fühlen sich verantwortlich dafür, aus dem Teufelskreis auszubrechen. Natürlich müssen sie fachlich sattelfest sein und etwa auch spezifische Fehlkonzepte der Kinder beim Lernen erkennen und beheben helfen.