Jetzt macht der das einfach. Lebt auf dem Segelboot. Mein Primarschulfreund, den ich wohl über 20 Jahre nicht mehr gesehen habe, aber über Social Media Posts irgendwie doch stalke. Und dann ist da auch plötzlich eine Partnerin mit auf den Fotos – und später ein Baby. In mir entsteht eine Mischung aus Faszination, Erstaunen und Neugierde: Wie leben die drei? Wie machen sie das? Und: Wie beneidenswert ist das wirklich? Also kontaktiere ich sie via Facebook, meinen ehemaligen Schulkameraden Christian Wendel, seine in Berlin aufgewachsene Partnerin Anne-Katrin Schulze und ihren gemeinsamen Sohn Eddy. Wir machen einen Termin für einen Video-Call Ende April aus. Und ich erfahre, dass ihr Lifestyle nicht nur mich interessiert: Die beiden sind im Mai im SRF-Dok «Hin und weg» zu sehen, wo binationale, im Ausland lebende Paare porträtiert werden.
Leben auf 16 Quadratmetern
Chris, 45, und Anne, 41, segeln auch nicht «um die Welt», wie ich dachte, sondern sind vor allem in der Karibik unterwegs, wo sie sich vor vier Jahren kennenlernten. Anne war 2016 mit ihrem damaligen Partner gestartet, Chris stach 2017 auf eigene Faust mit seinem Segelboot Bonita in See. Beide hatten zuvor viel gearbeitet und konnten sich so Geld auf die Seite legen. Elektroingenieur Chris arbeitete zwischendurch temporär – Logistik, Gastronomie, auf dem Bau – gerade so viel, wie es brauchte, um möglichst rasch wieder zurück aufs Boot zurückzukehren. Nach dem Lockdown sei er wie alle «segelgierig» gewesen, die Wege waren aber noch eingeschränkt, so haben er und Anne mit ihrem Partner oft dieselben Routen gehabt und sich immer wieder getroffen. Buddy-Sailing quasi. Und dann änderten sich die Dinge – auf einmal waren Chris und Anne mehr als nur Sailing-Buddys. Seit 2021 gehört Anne fix zur Bonita-Crew. Bonita ist für die beiden wie ein weiteres Familienmitglied. Sie bezeichnen sie als Oma, weil sie schon ziemlich in die Jahre gekommen ist und von den beiden immer wieder Wartungsarbeiten verlangt. Bonita hat 40 Jahre auf dem Buckel, ist 10,2 Meter lang und 3,3 Meter breit. Geschätzte Wohnfläche: 16 Quadratmeter. Zwei schliessbare Schlafzimmer für jeweils zwei Personen und – sehr gut bei «Hin und weg» zu sehen – das ist praktisch nichts. Kaum Platz, keine Rückzugsmöglichkeiten; zumal auch Ersatzteile wie Werkzeug, Tauchkompressor oder Ersatzsegel noch irgendwo untergebracht sein müssen.
Am Tag des Zoom-Calls sind sie gerade in St. Augustine, nördlich von Miami. Hier wohnt der Cousin von Chris und an seine Adresse konnten sie sich einige Ersatzteile schicken lassen – ein Luxus. Denn das wird im Gespräch schnell klar: So schön es ist, das Meer sein Zuhause nennen zu können, diese Freiheit bedeutet auch Verantwortung. Es ist wohl das, was vielen nicht bewusst ist, wenn sie auf dem Instagram-Account der beiden die Bilder von der rauen See oder von einsamen Stränden sehen: Die Freiheit schränkt auch ein. Wer auf dem Segelboot lebt, ist praktisch den ganzen Tag mit diesem beschäftigt respektive damit, das Leben darauf zu organisieren: das Boot anmelden, sich um Visa kümmern, einen Ankerplatz organisieren, Reparaturarbeiten, Wetter und Kurs studieren, einkaufen, Trinkwasser holen, Wäsche irgendwo waschen. «Alle Gespräche drehen sich ums Boot», sagt Anne. Chris ergänzt: «Man muss sehr viel reden, wenn man so eng aufeinander lebt. Wir sind punkto Mobilität extrem voneinander abhängig.» Paarleben in extremis. Und mit Eddy, geboren im Sommer 2024, ist es noch anspruchsvoller geworden. Zwar verbrachten Anne und Chris rund ein halbes Jahr vor und nach Eddys Geburt in Deutschland und der Schweiz. Doch danach hiess es: Babypause vorbei, Bonita ruft.