Sarahs langer Weg ins Leben
380 Gramm: So leicht war Sarah bei der Geburt. Die Ärzte gaben dem Baby wenig Chancen.
Liebe Sarah. So früh haben wir dich nicht erwartet. Aber jetzt bist du da. 26 Wochen alt, 27 Zentimeter gross, 380 Gramm leicht. Eben haben sie dich aus meinem Bauch geholt. Es hat sich nicht angefühlt, als hätte ich dich geboren. Es ging alles so schnell. Ich habe deinen ersten, zwar feinen, aber entrüsteten Schrei gehört. Wir wussten nicht, dass du so leicht sein würdest. Wir rechneten mit 450 Gramm. Hätten wirs gewusst, hätten wir uns vielleicht dagegen entschieden, dich auf die Welt holen zu lassen.
Bern, Januar 2015, ein kalter Wintertag.
Das Haus, in dem Bettina Schaer mit Sarah wohnt, liegt in einen Hang gebaut, hoch über der Stadt. Unterhalb macht sich die Aare breit, zieht gemächlich eine Schlaufe. Bettina Schaer, 42, Psychologin, heute Leiterin Personalmanagement Verwaltungspersonal der Erziehungsdirektion Kanton Bern, blättert im Buch, das sie für ihre Tochter Sarah geschrieben hat. «Dein langer Weg ins Leben» ist eine Geschichte von Trauer, Hoffnung, Ohnmacht, von Kontrollverlust, Freude und tiefer Traurigkeit. «Es war eine ganz normale Schwangerschaft. Mein Mann, Jürg Schöni, 55, und ich freuten uns auf unser Baby, alles lief gut. Dann kam dieser Tag. Ich war in der 23. Woche und angemeldet für eine Ultraschalluntersuchung. Ich ging da rein und mit einer Todesnachricht wieder raus.» Diagnose: Schwere Plazentainsuffizienz. Das Baby hatte bereits praktisch aufgehört zu wachsen. Die Versorgung reichte gerade noch für lebenswichtige Organe. Bliebe das Kind im Bauch, würde es innerhalb der nächsten vier, fünf Wochen sterben. «Ich hatte eine Riesentrauer. Und eine wahnsinnige Angst. Was wird, wenn es stirbt? Was, wenn es überlebt? Statt darüber zu diskutieren, welchen Kinderwagen wir hip finden, oder welches Bettchen für unser Baby das richtige ist, führten wir mit Ärzten Diskussionen über Minimalgeburtsgewicht, mögliche Schweregrade von Behinderungen, was lebenswert ist, was nicht, was wir unserem Kind zumuten können und wollen. Und uns», erzählt Bettina Schaer. Die Ärzte schätzten das Geburtsgewicht des Babys um die 420 bis 450 Gramm. Die Statistik rechnet vor, dass bei einem solch geringen Geburtsgewicht bei einer grossen Mehrheit der Babys schwere Behinderungen zurückbleiben. Nur ein kleiner Prozentsatz dieser Frühchen würde relativ gesund. «Wir waren verzweifelt, total überfordert, über ein ganzes Leben entscheiden zu müssen. Wir sind keine Abtreibungsgegner. Wir hatten ja auch schon die Fruchtwasserpunktion machen lassen, um auf schwere Chromosomenschädigungen zu testen. Doch jetzt war alles anders.» Sie entschieden sich, es zu versuchen, mit der schon fast vermessenen Hoffnung, dass gerade ihr Kind unter den wenigen Prozenten war, das vielleicht gesund werden könnte. Bettina Schaer ging in die Klinik. Sieben Tage später, als das Herz des Babys nicht mehr richtig schlagen wollte, wurde es geholt. Per Kaiserschnitt.
Mit deinen Ärzten haben wir vereinbart, dass sie nach deiner Geburt schauen, welche Signale du ihnen gibst. Du hast gezeigt, dass du leben willst, hast geschrien, dich gewehrt, mit deinen Ärmchen gerudert, geatmet. Da war klar, dass sie alles tun werden, um dich am Leben zu erhalten. Die Leute gratulieren mir zu deiner Geburt und ich weiss nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich bin einfach nur traurig. Traurig darüber, dass ich dich nicht wenigstens etwas länger habe in meinem Bauch behalten können. Dass du so klein bist und so wenig Chancen hast aufs Leben.
«Die Ärzte meinten, dass sie nicht sehr lange leben würde. Sie war einfach zu leicht», so Schaer. Sarah war zerbrechlich, alles war zu dünn. Die Venen, die Haut, manchmal konnte man durch die Bauchdecke die Darmschlingen sehen. Das Baby konnte nicht selber atmen, war intubiert, brauchte Kortison. Es gab Probleme mit der Blutgerinnung. Die Gefahr von Hirnblutungen stieg.
Als ich dich zum ersten Mal sehe, bekommt meine Angst um dich ein Gesicht. Doch es ist in diesen ersten Wochen nicht die Angst, dich, Sarah, zu verlieren. Es ist die Angst, mein Kind zu verlieren, das ich mir so gewünscht habe. Wärst du gestorben, dann hätte ich getrauert um den Verlust meines Kindes. Um dich als Person wohl nicht so sehr. Ich kenne dich noch nicht, ich sehe dich nur durch die kleinen Luken der Isolette, du scheinst so zerbrechlich, ich berühre dich, aber ich spüre dich gar nicht richtig. Ich muss erst lernen, dass du mein Kind bist. Ich muss dich liebenlernen.
Eine Woche später lebte Sarah noch.
Sie war stabil auf tiefem Niveau, wie sich die Ärzte ausdrückten. Bettina Schaer durfte ihr Kind erstmals auf den Bauch nehmen. Richtig spüren. Es brauchte die Hilfe von drei Pflegerinnen, um das winzige Wesen mit all den Schläuchen hochzuheben. «Sie fühlte sich nicht an wie ein Baby. Sie war so klein, so leicht, ich spürte sie kaum. Ihre Hand war wie eine kleine Mücke, die über meine Haut krabbelte. Von da an war sie meine Mücke, mein Müggeli, wie man auf Berndeutsch sagt.» Was dann kam, war eine unfassbar schwere Zeit. Für das Baby, für die Eltern. Sarah hatte immer wieder lebensbedrohliche Probleme mit der Lunge. Die Abgabe von lebensrettenden Medikamenten hätte gleichzeitig den Tod bedeuten können, weil diese das Risiko auf Hirnblutungen massiv erhöhten. «Mehrere Male habe ich miterlebt, dass Sarah beinahe gestorben ist, dass sie mit Herzmassagen wiederbelebt oder wieder intubiert werden musste, obwohl auch das ihren Tod hätte bedeuten können.» Als man feststellte, dass sie ohne Augenoperation blind werden würde, musste entschieden werden, ob man eine OP riskieren wollte und damit in Kauf nahm, dass sie dabei sterben könnte oder akzeptieren, dass sie blind werden würde. Wie schlimm ist es, blind zu leben? Situationen, die man nie vergisst. Doch neben all dem Schweren gab es auch gute Momente, schöne, das erste Bad zum Beispiel, als die Kleine so entspannt und wach war wie vorher noch nie. Oder wenn Sarah extubiert werden und selber atmen konnte. Gute Momente, die Hoffnung machten. Den absoluten Höhepunkt des Unerträglichen erreichte Bettina Schaer jedoch, als Sarah ungefähr fünf Monate alt war und ihre Lunge aufgrund eines Infektes kollabierte. «Die die Atemwege waren verengt, die Lunge zu geschädigt. Die Atmung setzte komplett aus. Die Ärzte reanimierten und beatmeten sie ununterbrochen, während sie mit ihr in die Neonatologie des danebenliegenden Inselspitals eilten und sie dort an eine Hochfrequenzbeatmungsmaschine anschlossen.» Es war die einzige und letzte Möglichkeit, das Baby zu retten. «Sarahs kleiner Körper wurde permanent durchgeschüttelt von den Stössen der Maschine. Wir hatten bereits zwei schwere Wochen hinter uns, in denen sie praktisch dauernd geweint und gelitten hatte, und ich wusste, dass sie nun über Tage an dieser Maschine angeschlossen sein würde. Ich sah in ihren Augen, dass sie völlig panisch war, weinen konnte sie wegen des Beatmungsschlauches nicht. Da war für mich Schluss, Aus, Ende. Ich verlangte, dass Sarah sediert wird, damit sie nur noch schläft und nichts mehr spürt. Andernfalls war ich bereit, mein Kind von all den Schläuchen zu befreien, mit ihr in den Park zu gehen und sie sterben zu lassen.» Sarah wurde sediert und zwei Tage lang durch die Maschine beatmet. Und das war letztendlich ihr Schritt ins Leben. Langsam erholte sie sich und nach etwa sechs Wochen konnten die Eltern ihr Kind nach Hause nehmen. Mit der Prognose zwar, dass Sarah wohl ihr Leben lang zusätzlichen Sauerstoff benötigen würde. «Doch das traf nicht ein. Bereits sechs Monate später konnten wir das Gerät in die Ecke stellen.»
«Ich war bereit, Sarah sterben zu lassen.»
Meine liebe Sarah. Du hast so gekämpft in diesen Monaten und du hast gewonnen. Willkommen zu Hause, Sarah, willkommen im Leben. Ich liebe dich. Deine Mama
Sarah ist heute sechs Jahre alt und geht in den Kindergarten. Sie ist ein munteres, fröhliches Mädchen. «Ja, ich habe viele Freunde, die Ida, die Edda, Valentin, Iman und die Ina. Ida und ich gehen beide auf den Ponyhof», quasselt Sarah drauflos. «Am liebsten stipizen ich und meine Freunde Schokolade beim Grosi, das ist toll.» Nur etwas findet Sarah ganz blöd: «Langsam laufen. Das ist soooo langweilig. In der Kita müssen wir beim Spaziergang immer langsam laufen, wegen den Kleinen. Das ist superblöd», sagts, und schwingt sich auf ihr Spielpferd. «Man wird dankbar», sagt Bettina Schaer. «Dass wir hier leben, wo so etwas möglich ist.» Es sei Medizin und Betreuung der Spitzenklasse, die von der Neonatologie des Frauenspitals und des Inselspitals Bern geleistet werde. «Wir fühlten uns umsorgt, ernst genommen, gut betreut, immer miteinbezogen, aber nie mussten wir Entscheidungen alleine treffen, das hätten wir auch nicht gekonnt.» Etwa 600 000 Franken hat es gekostet, Sarah ins Leben zu holen. «Da drängen sich ethische Fragen schon auf, auch uns Eltern», so Bettina Schaer. Was bleibt an Narben, an seelischen Verletzungen? «Eigentlich nicht viel, wohl auch, weil diese Geschichte gut ausgegangen ist.»
[] *Auszüge aus «Dein langer Weg ins Leben» von Bettina Schaer an ihre Tochter Sarah. Schaer hat die Geschichte in den sechs Monaten Klinikaufenthalt auf der Neonatologie des Frauenspitals Bern aufgeschrieben.