Forschungen zu den Grundbedürfnissen von Kindern belegen: Übermässige Kontrolle, Manipulation oder Strafen hemmen die gesunde Entwicklung. Doch warum bestrafen wir unsere Kinder, auch wenn wir immer mehr wissen, dass es unseren Kindern schadet? «Weil diese Reaktionen automatisiert sind», sagt die Psychotherapeutin, «wir müssen erst lernen, wie man gewaltfrei erzieht. Und das ist für viele Erwachsene, als ob sie eine neue Sprache lernen müssten.»
Grenzen trotzdem setzten
Dieser Meinung ist auch Ellen Girod. Die Zürcherin ist Journalistin und gründete vor sechs Jahren den Blog «chezmamapoule. com». Mit Ihren Texten, Podcasts und Interviews hat sie sich einen Namen als Expertin für bedürfnisorientierte und straffreie Erziehung gemacht. Wir treffen uns zu einem Gespräch für diesen Artikel. Ich möchte mehr darüber erfahren, wie sie ihre beiden Kinder straffrei erzieht. «Beim Bestrafen lernen Kinder, was Angst, Schmerz und Macht sind. Ich möchte nicht, dass meine Kinder lernen, sich vor Konsequenzen und diesen Gefühlen zu fürchten. Stattdessen sollen sie lernen, wie man Grenzen von anderen respektiert und diese auch selber setzt», erklärt Ellen Girod die Motivation ihres Erziehungsstils: In der Theorie klingt das richtig und wichtig.
Doch in der Praxis sind viele Eltern überfordert mit einer straffreien Erziehung, so auch ich. «Es ist idealistisch zu glauben, dass eine Erziehung auf Augenhöhe einfach so ohne weiteres funktionieren», beruhigt sie mich. «Die meisten Eltern aus unserer Generation wurden autoritär erzogen und versuchen, es selber anders zu machen. Doch die Prägungen sind stark. Natürlich schreie auch ich manchmal und mache viele Fehler.»
Kinder nicht gefügig machen
Ondine Riesen versteht ihre Mutter und ihr Verhalten heute besser, es sei auch für ihre Mutter schwer gewesen in der Kindheit und im Familiensystem:
«Meine Mutter wuchs konservativ auf. Die Oberen hatten das Sagen, es galt, der älteren Generation Respekt zu zeigen im Sinne von Unterwerfung. Dadurch mussten auch wir folgen. Sehr wichtig war ihr eine Entschuldigung, das war für sie der Beweis, dass ich gefügig gemacht worden bin. Ja, sie wollte mich gefügig machen. Doch diesen Momenten fühlte ich mich leer, schwach und wertlos. Auch wenn meine Eltern liebende Eltern waren, ihr Konzept von Autorität und Bestrafung hat mich bis ins Erwachsenenalter verunsichert.»