Zehn Minuten später fehlt das Echo. Othmar?! Yvonne ruft, zweimal, dreimal. Er antwortet nicht. Sie stutzt, steigt die Treppe hinunter, erstarrt. Othmar liegt in der Waschküche in Erbrochenem. «Helft uns»!, beschwört Yvonne die Rufnummer 144. Der Nachbar beatmet Othmar, bis der Krankenwagen eine halbe Stunde später mit Blaulicht eintrifft. Yvonne nimmt die Kinder an der Hand, setzt sich im Wohnzimmer aufs Sofa. «Bitte, lieber Gott, nimm uns Othmar nicht weg, wir brauchen ihn!» Den Puls, den sie bei Othmar fühlte, war vermutlich nur noch ihr eigener. «Todeseintritt 10.28 Uhr», steht im Protokoll. «Plötzlicher Herzstillstand, ausgelöst durch Sarkoidose, einer Entzündung des Herzmuskels.» Der Sekundentod hätte Othmar seiner Familie jederzeit entreissen können.
Yvonne spricht schnell, zeichnet mit Worten und Händen das Bild ihres Mannes, so vertieft, dass ihr Kaffee auf dem Stubentisch unberührt erkaltet. Das Sterben passte nicht zu Othmar. Er, das Energiebündel, der ruhelose Chrampfer, Molkereimeister in Kaderfunktion bei Emmi, mit Lust geleistete Überstunden, 22 Kilometer Radfahren täglich, 180 Rumpfbeugen, 80 Liegestützen; Othmar rauschte mit einem Tempo durch den Alltag, als hätte er geahnt, dass ihm das Leben nur im Zeitraffer vergönnt war.
Nach 18 Jahren verlässt keiner seine Familie spurlos. An den Wänden hängen Fotos der Familie; Othmars zuletzt getragenes T-Shirt liegt auf dem Ehebett, auf der Treppe stehen eingerahmte Briefe: «Heissgeliebte Yvonne, ich liebe dich so sehr.» Die Erinnerungen spannen sich wie ein Kokon um die Zurückgebliebenen.
Ariane, hellwache Erstklässlerin, sitzt mit am Tisch und zeichnet ihren Papa als Engel über den Wolken. «Hier hat er es schön», sagt sie und malt noch einen Schmetterling dazu.
Manchmal fehlt ihr der Vater, sagt Yvonne. Am ersten Schultag zum Beispiel. Bei den andern Kindern sassen Mama und Papa im Klassenzimmer, Ariane begleitete nur die Mutter. «Stimmt nicht», sagt Ariane und tippt sich auf die Schultern. «Da wars schön warm. Dädi stand hinter mir, das weiss ich.»