Weil bei einer seelischen Erkrankung auch Psychopharmaka eine Rolle spielen, besprach ein Arzt mit der Patientin wöchentlich die Medikation. «Weil ich mich mit der ersten Dosierung völlig benommen fühlte, reduzierten wir die Menge der Medikamente auf einen Viertel», erzählt Stefanie Rochat. Man gab ihr das Gefühl, trotz psychischer Krankheit die Selbstbestimmung nicht aus der Hand zu geben. Anders als bei einem stationären Aufenthalt, in dem die Klienten sich anpassen müssen – schon allein wegen des reibungslosen Klinikablaufs. Stefanie Rochat ist ihrem Mann dankbar dafür, dass er das Home Treatment akzeptierte und überhaupt mitanpackt, wo immer er kann. Trotzdem macht sie sich manchmal Sorgen um ihn: «Ich befürchte, dass auch bei ihm irgendwann das Fass überlaufen könnte.»
Oft geht vergessen, wie sehr die Angehörigen mitbetroffen sind: Partner, Kinder, Eltern – sie alle leiden im Schatten einer psychiatrischen Erkrankung mit.
Tatsächlich kann ein Klinikaufenthalt die Angehörigen auch entlasten und es wird vorgängig gut abgewogen, ob ein Home Treatment für alle in der Familie das Richtige ist.
Doch auch diesbezüglich spricht für Kerstin Gabriel Felleiter vieles für das Modell «Home Treatment»: Das Personal hat Einblick in den Familienalltag und das Umfeld kann auf natürliche Art und Weise einbezogen werden. «Wenn wir bei einer Patientin zu Hause am Küchentisch sitzen und die pubertierende Tochter setzt sich dazu und fragt, was eigentlich los sei mit Mama oder Papa, können wir direkt mit ihr sprechen.»
Bei einem Klinikaufenthalt hingegen stösst die Aufforderung für ein Angehörigengespräch oft auf Abwehr, sei es wegen der Umgebung, die bedrückt, oder einem zu langen Anreiseweg. In den eigenen vier Wänden akzeptieren die Angehörigen eine Behandlung eher, denn die Einschnitte in das soziale Gefüge sind geringer.
Auf jeden Fall senkt die Möglichkeit, sich daheim behandeln zu lassen, die Hürden für Betroffene. Auch deshalb, weil ein Home Treatment sich oft weniger lang hinzieht als ein stationärer Aufenthalt: Die Behandlung zu Hause dauert im Durchschnitt drei Wochen. Zudem zeigt sich der «Drehtüreffekt» weniger oft: Home Treatment verhindert, dass sich Patienten in der Klinik besser fühlen als zu Hause und deshalb nach der Entlassung oft lieber wieder in die geordnete Welt der Klinik zurück wollen.
Home Treatment bei Suizidalität
Die Grenzen einer Behandlung zu Hause liegen da, wo die erkrankte Person für andere zur Bedrohung wird. Verhält sich ein Vater krankheitsbedingt aggressiv oder vernachlässigt eine alleinerziehende Mutter ihre Kinder, müssen die Fachleute zwingend eine Gefährdungsmeldung bei den Behörden einreichen. Dann macht ein stationärer Aufenthalt – womöglich in einer Eltern-Kind-Einrichtung – mehr Sinn. «Bei Suizidalität hingegen ist ein Home Treatment möglich, sofern die Betroffenen absprechbar sind», sagt Kerstin Gabriel Felleiter.
Aufklärung hin oder her – psychische Leiden sind noch immer stigmatisiert. Allzu oft fragen sich Betroffene, was sie falsch gemacht haben und versuchen zu lange, sich zusammenzureissen. «Dabei wäre es so wichtig, schnell Hilfe in Anspruch zu nehmen», sagt die Psychiaterin noch einmal mit Nachdruck, bevor sie zum nächsten Termin eilt.
Stefanie Rochat ist nun doch etwas erschöpft vom Erzählen. Zum Glück hat sie das Mittagessen vorgekocht, das sie gleich aufwärmen wird. Zuvor aber braucht das kleinere der beiden Mädchen noch Zuwendung, es ist hingefallen und stolpert weinend aus dem Zimmer. Stefanie Rochat hebt ihr Kind auf den Schoss, streichelt und tröstet es. Sie ist eine fürsorgliche Mutter. Zwar sei sie noch immer manchmal aufgewühlt, aber im Moment reiche es aus, regelmässig ihre Psychologin zu sehen oder sporadisch die psychiatrische Spitex in Anspruch zu nehmen.
Am meisten aber entlastet Stefanie Rochat die Gewissheit, dass sie in den eigenen vier Wänden bleiben kann, sollte die Depression allzu heftig zurückkehren.