Du bist ein Bub und das Auto macht brummm
Meine Söhne sind dafür verantwortlich, dass sich meine Kategorien von männlich und weiblich immer mehr auflösen. Sie denken nicht in Genderschubladen. Das tut anfänglich kein Kind, aber alle Kinder suchen nach Ordnungsprinzipien, um die Welt zu verstehen, Gesetzmässigkeiten zu finden. Und eine der ersten, die wir ihnen anbieten, ist jene des Geschlechts. Du bist ein Bub, du trägst hellblaue Bodys und das ist ein Auto, brummmm. Das erste Wort meines jüngeren Sohnes war Zug. Nicht, weil er mit seinem männlichen Hirn scheinbar eine angeborene Affinität für Mobilität hat, sondern, weil wissenschaftlich längst erwiesen ist, dass Bezugspersonen mit männlichen Babys häufig über Züge, Flugzeuge und Autos reden, sie ihnen zeigen, Geräusche dazu machen. Die Bilderbuchsammlung meiner Söhne sah in ihren ersten Jahren aus wie die Sammlung eines Automobilfanatikers mit Vorliebe für Blaulichtorganisationen – bis ich anfing, bewusst Gegensteuer zu geben. Ich las ihnen «Pippi Langstrumpf», «Ronja Räubertochter» und «Sams» vor, begann, für sie TV-Serien zu suchen, in der auch mal Mädchen oder Frauen die Heldinnen sind. Ich gendere zu Hause Berufsbezeichnungen konsequent und lasse fast schon aus Prinzip meinen Mann alle Geburstagskuchen backen. Es hat sich gelohnt. Viele Dinge, die für mich noch geschlechtlich verhaftet waren, erleben sie neutral. Fussballspielende Mädchen, Feuerwehrfrauen, weinende oder schöppelende Männer.
Ich sehe aber auch, wie andere Menschen meine Buben darauf trimmen, mehr auszuhalten, tougher zu sein. «Du bist doch kein Mädchen», «sei keine Sissi», haben sie schon öfter gehört, als mir lieb ist. Und wehe, einer meiner Jungs kam früher im Sandkasten einem Mädchen zu nah, mopste dessen Schaufel oder warf Sand. Die Interventionen der Mädcheneltern waren stets heftig. Als müssten sie ihre Mädchen schon jetzt vor der potenziell männlichen Gefahr retten. Aber auch so, als würden sie ihren Mädchen keinesfalls zutrauen, sich selbst zu wehren. Wie denn auch in dieser Welt, wo Frauen doch meist die Opfer und Männer die Täter sind. Ich habe diese Mädchenmütter immer verstanden. Habe meine Buben stets harsch zurechtgewiesen. Keine Gewalt, niemals und schon gar nicht gegen Mädchen. Doch ich zementierte damit auch die Geschlechterklischees. Sie lernten im Sandkasten, dass sie das starke Geschlecht sind.
Wir müssen Buben mehr wie Mädchen behandeln
«Wo Mädchen auf ihren Körper und ihr Aussehen reduziert werden, werden Jungen von ihrem Körper entfremdet, wenn es darum geht, ihn zu schmücken und sich daran zu erfreuen», schreibt die Autorin Mithu M. Sanyal in ihrem berühmt gewordenen Essay «I will always love my male child». Buben dürften ihre Körper nutzen, um damit auf Bäume zu klettern, sich im Sport zu messen oder sich gegenseitig zu schlagen – «aber ihre Körper werden seltener gestreichelt, geschmeichelt und geschmückt», führt sie weiter aus. Und sie hat recht. Mit männlichen Babys wird weniger gesprochen, sie werden früher beim Spielen alleingelassen. Bei Streitereien unter Buben greifen Erwachsene später ein. Und vor allem Väter haben grosse Mühe, zu ihren Söhnen zärtlich zu sein, wenn diese aus dem Kleinkindalter raus sind. Wie sagte die grossartige US-Frauenrechtlerin Gloria Steinem schon vor vielen Jahren: «Schön, dass wir angefangen haben, unsere Töchter wie unsere Söhne zu erziehen. Aber es wird erst funktionieren, wenn wir auch unsere Söhne mehr wie unsere Töchter behandeln.»
Ich möchte für meine Söhne eine Welt, in der sie alles sein können. Stark und verletzlich, mutig und ängstlich, Hebamme und Feuerwehrmann. Ich werde alles daran setzten, sie zu warmherzigen, offenen, bewussten Menschen zu erziehen. Im Gegenzug erwarte ich, dass sie als genau diese Menschen erkannt werden und nicht für das, was sie äusserlich darstellen, pauschal verurteilt werden. Ich hoffe, das ist nicht zu viel verlangt.