Es kann schnell gehen. Eben noch lag Lennys (6) Blutzuckerwert im grünen Bereich; Nicola Vollenweider (37) erlaubt ihrem Sohn, im Garten zu spielen. Eine Viertelstunde später klopft der Junge an die Stubenscheibe, blass um Mund und Nase, schwach und zitterig auf den Beinen. «Mir ist schwindelig!» Plötzlich und ohne Vorwarnung ist der Blutzuckerwert im Keller. Lenny war fast vier, als seine Mutter bemerkte, wie er Unmengen zu trinken begann, 3 bis 4 Liter pro Tag. Während der kleine Bruder nachts bereits trocken war, brauchte Lenny noch Windeln. Der Kinderarzt aber attestierte beste Gesundheit. Als Lenny täglich schlapper und dünner wurde, liess ihn Nicola ein zweites Mal untersuchen. «Ihr Sohn hat Diabetes!», hiess der Befund. Auf der Fahrt ins Spital halluzinierte der Junge bereits: «Mama, warum krabbeln schwarze Spinnen über die Autodecke?»
Die Bedeutung der Diagnose erfasste Nicola in den folgenden zwei Wochen. Im Basler Kinderspital erfährt sie, dass Lenny Diabetes Typ 1 hat, der häufig schon im Kleinkindalter auftritt. Sie vernimmt, dass dabei das körpereigene Immunsystem die insulinproduzierenden Betazellen der Bauchspeicheldrüse zerstört und das fehlende Hormon ein Leben lang künstlich zugeführt werden muss. Nicola schläft zwei Wochen auf dem Feldbett neben ihrem Kind, lernt den Blutzucker zu messen, Wertetabellen zu lesen, ein Speckröllchen an Lennys Hüfte zu fassen und Insulin hineinzuspritzen. «Wir durften erst nach Hause, als ich alles selber bewerkstelligen konnte.» Den ungerechtfertigten Verdacht der Umwelt, sie hätten ihr Kind mit Zuckerbomben gefüttert, lernen die Eltern zu überhören.
Fünf Mal aufstehen pro Nacht
Während Nicola jetzt in der Wohnküche den kleinen Godric (10 Monate) stillt, scannen ihre Augen Lennys Spiel im Hintergrund, kontrollieren die Hautfarbe, registrieren jede seiner Bewegungen. «Am meisten Angst habe ich vor einem plötzlichen Hypo», sagt die Mutter und meint damit eine «Hypoglykämie», Unterzuckerung. Normal wäre ein Wert zwischen 3,8 mmol/l und 7,9 mmol/l; bei einem Diabetiker schiesst dieser schnell drunter oder drüber. Lenny könnte bei einem unbemerkten Hypo ins Koma fallen, schwere Hirnschäden davontragen, sterben. «Die Schwankungen sind unberechenbar», erklärt Nicola und streichelt mit ihren langgliedrigen Fingern über das Babyköpfchen. Kinder reagieren besonders empfindlich auf dieses Auf und Ab. Jeder Zahn, jeder Wachstumsschub, jede Aufregung spiegelt sich im Blut wider. Hat Lenny einen Albtraum, kann das den Blutzuckerspiegel innert Minuten verändern. Um diesen konstant zu halten, müssen die Eltern Nacht für Nacht fünf Mal aufstehen und ihn kontrollieren.
Als die Vollenweiders letztes Jahr das erste Mal von Diabetikerwarnhunden hörten, horchten sie auf: Ein Hund, der an Atem- und Schweissgeruch ein Hypo erkennt? Alarm schlagen kann? Wie würde sie das entlasten! Als hätte sie verstanden, dass von ihr die Rede ist, pfeilt Ambra um die Wohnzimmerecke. Die kupferroten Hängeohren schlenkern wie die Fellklappen einer Russenmütze; forsch beschnuppert die Hündin die fremden Taschen und Hände. Ambra ist ein Geruchs-Kraftwerk. Während ein Mensch 5 Millionen Riechzellen besitzt, haben Hunde 100 Millionen. Ungarische Jagdhunde wie Ambra das Doppelte. Wenn sie jetzt mit kurzen Atemzügen durchs Haus schnüffelt und mit Lenny balgt, liefern ihr die Riechzellen bis zu 300 Mal pro Minute neue Geruchspartikel. Das neue, von allen liebgewonnene Familienmitglied springt übermütig an Nicola hoch: «Den Namen ‹Ambra› gaben wir ihr, weil das schöne Geburtshaus so hiess, wo unser Jüngster
zur Welt kam.»
In Deutschland werden Diabetikerwarnhunde bereits für Erwachsene und Kinder eingesetzt –, in der Schweiz aber ist Ambra der erste Hund, der speziell für ein Kind mit Diabetes trainiert wird. Heute steht inmitten der Hügel des Luzerner Hinterlandes einer der letzten Schulungstage an. In einer grossen Holzbaracke neben einem Tierheim übt Nicola mit Ambra und Lenny, was ihrem Sohn dereinst das Leben retten kann. Die Ausbildnerin Sandra Lindenmann, ein Energiebündel mit streng liebevollem Blick auf Vier- und Zweibeiner, ruft auf zur Arbeit. Zuerst muss Ambra aus zwei identischen schwarzen Etuis dasjenige wählen, in dem ein Leibchen von Lenny steckt, das er während einer Unterzuckerung getragen hat. Im andern Etui liegt ein T-Shirt ohne hypoglykämischen Geruch. Ambra schafft die
Aufgabe auf Anhieb.
Dann aber haperts. Lenny legt sich bäuchlings auf den Boden, unter ihm ein gefaltetes T-Shirt mit dem Geruch von Unterzuckerung. «Such!», befiehlt Nicola. Doch Ambra hechelt ziellos an Lenny vorbei, wedelt überdreht mit dem Schwanz, will lieber spielen statt sich in Nasenarbeit üben. Nicola schlägt entnervt die Hände vors Gesicht. Beim erneuten Befehl aber pariert Ambra. Sie umkreist den aschblonden Jungen, beschnüffelt ihn, hebt den Kopf und bellt kräftig Richtung Nicola. «Ja!», ruft diese begeistert und drückt Ambra zur Belohnung einen fetten Klacks Leberwurst-Parfait auf die Hundezunge. Auch Sandra Lindenmann lacht erleichtert. Ein Diabetikerwarnhund, erklärt sie, lerne aber nicht nur, in Atem und Schweiss ein Hypo zu erriechen; er muss auch Türen öffnen, ein Nachttischlämpchen anknipsen und Zuckerhaltiges holen können. Das Wichtigste jedoch sei, dass Ambra sich verantwortlich fühle für Lenny. «Dafür muss eine tiefe Bindung entstehen zwischen Hund und Kind.»