Als wir zehn Minuten später vor die Tür treten, liegt der Melchsee vor uns wie eine blank polierte Glasplatte. Im Wasser spiegeln sich die Gipfel, an den Ufern stehen ein paar Angler und hoffen auf den grossen Fang. In den vergangenen Monaten sind wir oft in die Berge gegangen. Anfangs waren unsere Touren fast flach und keine drei Kilometer lang. Doch schon bald wurden die Distanzen länger und die Berge steiler. Wir haben diese Ausflüge als Vorbereitung für unsere erste «echte» Wanderung immer sehr genossen. Das gemeinsame Ziel «Hüttentour» hat unsere Familie zusammengeschweisst. Und Anouk hat schnell verstanden, dass man beim «Wandern» nicht nur Berge hochläuft, sondern die Eltern auch mal ganz für sich allein hat. Sie können nicht aufs Handy schauen oder telefonieren. Sie müssen dem Kind zuhören. Und meistens kehren sie nach der Wanderung in einer Hütte ein, wo es grosse Portionen mit Käsespätzli gibt.
Seit wir mit Kind unterwegs sind, ist «Hunger» ein verlässlicher Begleiter unserer Touren. Das ist auch diesmal nicht anders: Als wir den Tannensee erreichen, kommt er um die Ecke. «Wann machen wir Picknick?», fragt Anouk. Wir wissen: Jetzt haben wir noch etwa zehn Minuten, um ein schönes Plätzchen für die Rast zu finden. Zum Glück wartet am Ende des Sees eine Bank wie aus dem Bilderbuch auf uns. Gerade als wir unsere Rucksäcke wieder zusammenpacken, fährt hinter uns der «Fruttli»-Zug vorbei. Wir könnten jetzt in die kleine, gelbe Bimmelbahn steigen und uns bis zur Tannalp kutschieren lassen. Doch mein Mann und ich sind uns einig: Diese Etappe schaffen wir aus eigener Kraft.
Kurz hinter der Tannalp biegt der Weg, der sich bisher immer sanft bergauf und bergab geschwungen hat, plötzlich ab und stürzt sich waghalsig in die Tiefe. Links von mir baut sich eine fast senkrechte Felswand auf, rechts geht es steil bergab ins Tal. Dankbar greife ich nach dem Seil, das an den Felsen befestigt ist. Auch Anouk klammert sich ein bisschen fester als sonst an meine Hand. Als wir die Steilpassage geschafft haben, können wir auch schon das Ziel unserer Etappe sehen: ein rosafarbenes Haus direkt am Engstlensee. Die Engstlenalp liegt irgendwo im Nirgendwo zwischen Melchsee und Engelberg. Die Hochebene auf 1834 Metern gehört zu den wenigen Orten in den Alpen, die vom Massentourismus verschont geblieben sind. Ein paar Mal am Tag kommt ein Bus aus Innertkirchen angefahren, ansonsten hat man hier oben seine Ruhe.
Abends gibt es Schnitzel mit Pommes oder Poulet mit Reis und Wasser aus der hauseigenen Quelle. Unser Zimmer hat weder Fernsehen noch WLAN, warum auch? Wir schauen vom Bett aus auf die verschneiten Gipfel von Wetterhorn, Mittelhorn und Rosenhorn und fallen kurz darauf in einen tiefen Schlaf.