Das starke Auge übernimmt
Alle Menschenbabys kommen mit einem unreifen visuellen System auf die Welt. Unmittelbar nach der Geburt können sie bloss Umrisse in ihrem nächsten Umfeld erkennen. Die Wahrnehmung von Farbe oder räumlicher Tiefe und die korrekte Interpretation von Sehinformation entwickeln sich erst mit der Zeit. Mit etwa acht Monaten sind Kinderaugen bezüglich Sehschärfe in der Regel gleich gut wie Erwachsenenaugen. Bei etwa drei bis fünf Prozent der Kinder tritt allerdings wie bei Sara eine (einseitige) Sehschwäche, eine Amblyopie auf.
Diese entsteht, wenn ein Kind schielt oder wenn eines der beiden Augen aus einem anderen Grund falsche oder schlechte Sehinformationen wahrnimmt. Beim Schielen erhält das Gehirn nicht deckungsgleiche Informationen, und weil es damit nicht umgehen kann, unterdrückt es die störenden oder unscharfen Bilder des schwächeren Auges automatisch. In der Folge werden nur noch die Informationen aus dem normal- oder bessersichtigen Auge verarbeitet, das sehschwache Auge wird praktisch stillgelegt. Weil nun Letzteres nicht mehr ausreichend trainiert wird, verpasst es wichtige Entwicklungsschritte – mit bleibenden Folgen wie verminderte Sehschärfe, Einbussen bei der Kontrastund Bewegungswahrnehmung, fehlendes Stereosehen sowie später eine eingeschränkte Lesefähigkeit. Letztere fällt allerdings erst ins Gewicht, wenn das sehstarke Auge verloren geht.
Damit eine Amblyopie erfolgreich therapiert werden kann, muss sie also möglichst früh erkannt und behandelt werden. «Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr, trifft beim Sehen zu 100 Prozent zu», sagt Mathias Abegg, Augenarzt in der Kinderaugenarztpraxis Onovis in Bern. Und fügt hinzu: «Die Eltern sollen keinesfalls Schuldgefühle haben, wenn sie nicht gemerkt haben, dass ihr Kind schlecht sieht.» Eine Sehschwäche bei Kindern ist für Laien nämlich fast nur dann erkennbar, wenn das Kind schielt. Sowohl Kurz- oder Weitsichtigkeit wie auch das sogenannte Mikroschielen, eine minime Fehlstellung der Augen, erkennen Eltern von Kleinkindern kaum.
Auch die Kinder selbst können nicht wissen, dass sie schlechter sehen als ihre Mitmenschen. Im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen werden deshalb die Augen der Kinder ab Geburt regelmässig ärztlich kontrolliert. «Seit viele Kinderärzte ein elektronisches Screening-Gerät haben, werden Auffälligkeiten noch früher entdeckt, sodass die Kinder heute oft schon mit Ein- bis Zweijährig zu uns kommen», sagt Orthoptistin Eveline Gentile, Expertin für Sehstörungen bei Onovis.