Doch seltsam: Die Altersangabe «Zwei Jahre oder länger» scheint hier geflissentlich überhört zu werden. Wie anders wäre es zu erklären, dass die meisten Menschen in der westlichen Welt mit kaum verhaltener Ablehnung reagieren, wenn sie merken, dass das Brustkind nach seiner Mahlzeit aufsteht und zurück in den Sandkasten läuft. Oder, wie Jasmin Heierli es schon erlebt hat, die Brust loslässt und sagt: «Mama, häschs Flugzüg ghört?»
Abartig finden das die Leute. Oder zumindest anstössig. Jasmin Heierli schaute zu, wie zwei Frauen ihretwegen die Parkbank wechselten, um nicht Zeugen des Brustgebens zu werden. Hätte Olivia einen Schoppen erhalten, dessen Sauger nichts anderes als eine Brustwarzenkopie aus Silikon ist, wären die Damen mit Si- cherheit sitzen geblieben. Jasmin Heierlis Erklärung für die Abneigung: «Die meisten Erwachsenen haben keine Erinnerung ans Stillen oder Gestilltwerden. Der Busen als Nahrungsquelle auch für ältere Kinder kommt in ihrem Bewusstsein nicht vor. Übrig bleibt dann nur die sexualisierte Sicht auf die Brust.»
Immerhin jedes elfte Kind wird laut Schweizerischer Gesundheitsbefragung von 2012 länger als 12 Monate gestillt. Ob sich die Stilldauer in den letzten Jahren verändert hat, ist unklar, da die Fragestellung nicht mit derjenigen der Vorjahre vergleichbar ist. Wer sich jedoch im Bekanntenkreis umhört, staunt, wer alles die gesellschaftsverträgliche Maximalstilldauer von 12 Monaten überschritten hat. Die Hauptgründe: Stillen ist praktisch, gesund und gut für das Kind.
Die Milchbar ist zeitweise geschlossen
An die grosse Glocke gehängt wird eine lange Stilldauer jedoch nicht, sondern im Gegenteil eher verheimlicht. Zu verbreitet ist die Überzeugung, Langzeitstillen schade der psychischen Entwicklung des Kindes, verwöhne es und sei letztlich egoistisch motiviert, weil die Frauen ihre Kinder nicht loslassen könnten – so auch die Meinung mancher Psychologen. Doch der weltweit grösste Verband von Kinderärzten, die American Academy of Pediatrics, kam nach gründlicher Auswertung der wissenschaftlichen Literatur zu folgendem Schluss: «Es gibt keine Hinweise auf schädliche Effekte auf die Psyche oder die Entwicklung des Kindes, wenn bis ins dritte Lebensjahr hinein oder länger gestillt wird.»
Klar ist: Stillen geht nur, wenn die Frau es auch selbst will, sich gut dabei fühlt und nicht unter Stress, Einschränkungen oder den Meinungen anderer leidet. Einen nicht zu unter schätzenden Einfluss auf die Stilldauer haben die Väter. Nicht selten sind sie es, die die Frauen zum Abstillen drängen - manchmal weil sie sich durch die enge körperliche Beziehung zwischen Mutter und Kind ausgeschlossen fühlen. Ein heikles Thema. «In den ersten Monaten nach der Geburt ist es schwierig, seinen Körper nicht nur mit dem Kind, sondern auch noch mit dem Mann zu teilen», sagt Jasmin Heierli.
«Mit der Zeit lernt man jedoch, gerechter zu sein.» Sicher ist, dass der Paarbeziehung Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Rollt der Mann jedes Mal mit den Augen, wenn das Kind nach der Brust verlangt, sind das weder gute Voraus setzungen für eine lange Stilldauer noch für eine unterstüt zende Beziehung zwischen den Partnern.
Meistens sind es jedoch die Frauen selbst, die sich nicht vorstellen können, während mehrerer Jahre ständig verfügbare Nahrungsquelle für ihr Kind zu sein. Ein Kleinkind, das jederzeit den Pulli der Mama hochschiebt und sich an der Milchbar selbst bedient, ist eine abschreckende Vorstellung für viele. Auch für Jasmin Heierli. «Olivia muss manchmal warten. In einem sehr vollen Zug beispielsweise ist es mir beim Stillen nicht wohl. Da vertröste ich sie auf später.» Mittlerweile ist es 14 Uhr. Die Studentin muss zurück an die Uni. Der Vater legt das Tragetuch zurecht und hebt Olivia geübt auf seinen Rücken. Noch bevor die beiden am Bahnhof ankommen, wird sie schlafen. Auch ohne Mamas Brust.