Sinnvolle Regulation der Natur
Eine Fehlgeburt, im Fachjargon Spontanabort genannt, ist der Verlust eines Babys in den ersten 24 Wochen der Schwangerschaft. Genaue Zahlen über die Häufigkeiten solcher Aborte gibt es nicht. In der Schweiz, so schätzt man, kommt auf jede zehnte Geburt ein Spontanabort. Bei durchschnittlich 78 000 Geburten pro Jahr sind das rund 7800 Spontanaborte. 7800 Frauen, die wie ich ein Kind verlieren. Ich befand mich in guter Gesellschaft. Erklärt wird eine Fehlgeburt gerne mit einer «sinnvollen Regulation der Natur». Der Körper erkennt ein Baby mit einer genetischen Störung und selektiert. Eine gute Sache also, wie mir mein Gynäkologe versicherte. Warum nur tröstete mich das nicht?
Vielleicht ist das schlechte Gewissen schuld. Vielleicht hatte ich mich zu wenig über die Schwangerschaft gefreut. Mein Sohn war damals gerade mal ein Jahr alt. Die Nächte waren eben etwas erträglicher geworden, sodass ich nicht mehr mit Augenringen so gross wie Kängurubeutel im Büro erschien. Ich ging ab und zu wieder in meine Lieblingsbar, um Freunde zu treffen oder hatte hin und wieder ein freies Wochenende mit meinem Mann, während die Grosseltern auf den Kleinen aufpassten. Dann tanzten wir, bis uns die Füsse schmerzten und ich barfuss, aber überglücklich, nach Hause lief. Ein Stück meines alten, kinderlosen Lebens war zurückgekehrt. Wie sehr ich es doch vermisst hatte.
Wie sehr ich doch erschrak, als dann eines Morgens auf dem Plastikfenster des Schwangerschafstestes zwei Balken erschienen: Geschundene Nippel, Quarkwickel auf entzündeten Brüsten, ein schreiendes Baby, das mich aus dem Tiefschlaf holt – Bild um Bild zog an mir vorüber. Ich war noch nicht bereit für ein zweites Kind. Dachte ich. Wie bitter sollte ich diesen Gedanken bereuen, als ich an jenem Montag im März plötzlich und wie aus heiterem Himmel auf dem Gynäkologiestuhl der Uniklinik lag. Es war die elfte Schwangerschaftswoche. Mein Sohn sass brav in seinem Buggy, während der untersuchende Arzt vergeblich versuchte, die Herztöne des Babys zu ermitteln. Doch da war nur Stille in meinem Bauch. Zwei Stunden später lag ich bereits vollnarkotisiert im OP. Ausschabung. Was für ein Wort. Die Reste meines Embryos und des Mutterkuchens wurden aus mir herausgekratzt und abgesaugt. Es klingt, wie es war. Viel schlimmer jedoch war die Sprachlosigkeit, die darauf folgte. Jeder, der in unserer Gesellschaft jemanden verliert, hat das Recht zu trauern. Und wird auch getröstet. Wenn man hingegen in den ersten Wochen einer Schwangerschaft ein Kind verliert, bleibt man allein und ist zum Schweigen verdammt. Im Büro schweigt man, weil der Chef noch gar nicht wusste, dass man schwanger ist. Unter Freunden schweigt man, weil es noch zu früh war, um die «anderen Umstände» breit zu schlagen. Und so blieb ich allein mit meiner Trauer.