Grundstein legen
Gleichzeitig steckt darin eine Chance für eine neue Form der Beziehung, findet Nathalie Klüver: «Bringen wir Kinder Vertrauen entgegen und signalisieren dabei, dass wir jederzeit ein offenes Ohr für sie haben, ohne uns aufzudrängen, kommen sie eher zu uns, wenn sie Probleme haben. Damit legen wir einen Grundstein für eine langfristige Beziehung – auch wenn wir Eltern auf den ersten Blick nicht mehr so gebraucht werden.»
Diese neue, erwachsenere Beziehung zu unseren Kindern entsteht jedoch nicht automatisch, wenn sie 14 sind, sagt Nathalie Klüver. Stattdessen gelte es, in der sogenannten Vorpubertät – also so zwischen 8 und 10 Jahren – die Weichen zu stellen. Und die Beziehung so zu festigen, dass sie auf gegenseitigem Respekt und Vertrauen beruht. «Am besten ist es, wenn man vor der Pubertät schon Rituale hatte, um Zeit miteinander zu verbringen.» Und: «Je mehr es davon gab, desto mehr wird davon übrigbleiben, auch wenn der Lebensmittelpunkt sich verschiebt.» Das gemeinsame Sonntagsfrühstück zum Beispiel, das Zeugnis-Glace, gemeinsame Hobbys – solche verinnerlichten Familienrituale prägen ein Leben lang.
Doch der Weg zum Begleiten statt Behüten ist und bleibt eine emotionale Achterbahnfahrt, gibt die Journalistin zu. «Hilfreich finde ich dabei den Gedanken: Mit dem Loslassen tun wir unseren Kindern einen Gefallen. Nur so finden sie ihren Platz im Leben.»
Hier knüpft Sandra Konrad an. «Ablösung ist eine der wichtigsten Aufgaben unseres Lebens», sagt die Hamburger Paar- und Familientherapeutin. Sie hat ein Buch geschrieben mit dem Titel «Nicht ohne meine Eltern – wie gesunde Ablösung all unsere Beziehungen verbessert, auch die zu unseren Eltern».
Wer nämlich nicht abgelöst ist, so Konrads Erfahrung, bleibe nicht nur mit den Eltern verstrickt, sondern neige auch dazu, ungelöste familiäre Konflikte zu reinszenieren – mit Partner:innen, Kindern und anderen Personen. Das Denken und Fühlen dieser Menschen kreise auch noch im Erwachsenenleben sehr stark um Mutter und Vater («Ich muss meine Eltern stolz machen», «Ich kann meinen Eltern keine Grenzen setzen», «Ich empfinde den Kontakt zu meinen Eltern als sehr anstrengend und zwinge mich trotzdem, sie regemässig zu treffen»). Anders gesagt: «Je abgelöster wir von unseren Eltern sind, desto selbst bestimmter leben wir und desto authentischer und empathischer sind wir», so die Paar- und Familientherapeutin.
Nicht die eigenen Erwartungen überstülpen
Idealerweise unterstützen Eltern ihr Kind bei diesem Prozess – indem sie einerseits verlässlich da sind und andererseits altersangemessen Loslassen. Ganz nach dem Sprichwort Goethes «Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel.» Dabei gelte es jedoch auch die Persönlichkeit des Kindes zu berücksichtigen, findet Sandra Konrad. So sei es wichtig, den Nachwuchs nicht zu überfordern und seine eigenen Erwartungen ihm nicht überzustülpen. Während sich die Achtjährige vielleicht zutraut, allein ins Training zu radeln, ist der gleichaltrige Nachbarsbub womöglich noch weit davon entfernt. Diese Unterschiede sollten Eltern respektieren.
Kinder hingegen, denen es nicht gelingt, die in den jeweiligen Phasen auftauchenden Herausforderungen zu meistern – an Vormittagen getrennt von den Eltern in Kita oder Schule zu sein, das erste Mal bei Freunden zu übernachten, die ersten Geheimnisse zu haben, die ersten Ferien ohne Eltern zu verbringen – drohen in ihrer Entwicklung stecken zu bleiben. «Jeder nicht vollzogene Entwicklungsschritt kann das weitere Leben belasten und in einer späteren Phase als Blockade wieder auftreten», so Sandra Konrad. Schlimmstenfalls werden daraus misstrauische Erwachsene mit schlechtem Selbstwertgefühl, denen es schwerfällt, Scham- und Schuldgefühle zu regulieren. Deshalb gelte: «Wer sein Kind liebt, übt sich beizeiten im Loslassen.»
Doch wie sieht das konkret aus? «Es geht darum, eine Balance zu finden zwischen Fürsorge und Loslassen», so die Paar- und Familientherapeutin. «Jedes Mal, wenn Eltern ihrem Kind vertrauen, entwickelt sich dessen Selbstvertrauen.» Versucht das Kind beispielsweise die ersten wackeligen Schritte und die Eltern rufen «Oh Gott, pass auf!», wird es vermutlich erstmal keinen neuen Versuch wagen. Reagieren Mutter und Vater hingegen mit «Bravo! Du schaffst das!», entwickelt das Kind Selbstvertrauen. Dies gelte auch für alle anderen Situationen im Laufe von Kindheit und Jugend.
Doch weshalb fällt manchen Eltern das Loslassen schwerer als anderen? Joëlle Gut findet: «Das ist unter anderem eine Frage des Charakters». Die Gründerin von Erziehungskosmos.ch ist Familien- und Jugendpsychotherapeutin im Berner Seeland und Mutter von zwei Teenagern. «Bin ich von meiner Persönlichkeit her jemand, der gerne gibt und weniger erwartet, etwas zurückzubekommen, habe ich während der Kindererziehung vermutlich jahrelang die Bedürfnisse aller Familienmitglieder abgedeckt, mich selber aber vielleicht hintenangestellt», erklärt sie. «Mit dem Loslösen der Kinder stellt sich dann die Frage: Was ergibt in meinem Leben neu oder wieder Sinn? Gibt es frühere Träume, die ich nun realisieren kann? Womit fühle ich mich erfüllt?» Eltern hingegen, die ausgewogener unterwegs sind und bereits während der Kleinkindzeit den Fokus auch auf Paarbeziehung, Freunde oder Hobbys gerichtet haben, falle das Loslassen oft leichter.
Tatsächlich tun sich heutige Elterngenerationen mit dem Loslassen oft schwer, beobachtet Joëlle Gut. Ihre Erklärung: «Kinder sind nun mal zunehmend ein grosser Teil der Sinnstiftung fürs Leben geworden und haben somit eine sehr grosse Gewichtung. Was vielleicht auch damit zu tun hat, dass wir in der Tendenz später Eltern werden und uns bewusster ist, dass die Zeit rasch vorbeigeht.»
Neuer Lebensabschnitt für Eltern
Wichtig sei es für Mütter und Väter, diesen neuen Lebensabschnitt als Chance für sich zu deuten. Der Austausch mit anderen in der gleichen Lebensphase könne dabei hilfreich sein. Eltern, denen es sehr schwerfällt, loszulassen, rät Gut zu einer psychologischen Beratung. Um die eigenen Ängste, Verhaltensweisen und Erziehungsstile zu analysieren und sich darin freier zu fühlen. «Denn Ablösung hat viel mit Kontrollabgabe zu tun und mit Vertrauen, das unsere Kinder das Leben selbst meistern können», so die Kinder- und Jugendpsychotherapeutin.
Auch Sandra Konrad sieht in der Ablösung des Nachwuchses eine grosse Chance für Eltern: «Lösen sich Kinder gesund ab, ist dies das grösste Kompliment, dass sie uns Eltern machen können», findet sie. «Schliesslich ist das der Beweis, dass wir es gut hingekriegt haben.» Ausserdem könnten Eltern ihren Kindern dabei zeigen, wie man mit Veränderungen positiv umgeht und sich weiterentwickelt.
Aber natürlich verlangt so mancher kindliche Ablösungsschritt Müttern und Vätern einiges ab: Sie müssen gelassen bleiben und vertrauen, obwohl sie sich Sorgen machen, weil sie ihre Kinder nicht vor allen Gefahren und Fehlern beschützen können. Sie müssen sich mit der schwindenden eigenen Bedeutung und eventueller Verlustangst auseinandersetzen, wenn sie weniger gebraucht werden. Müssen Lebensentscheidungen der Kinder akzeptieren, wie etwa den ‹falschen› Beruf oder ‹unpassende› Partner:innen. Doch am Ende, findet Sandra Konrad, gibt es schlicht keine andere Wahl, wenn Eltern hilfreich sein möchten für ihre Kinder. Und vor allem: «Wenn sie weiterhin guten Kontakt zu ihnen haben wollen.»
Gut nur, dass die Ablösung nicht über Nacht hereinbricht, sondern tatsächlich in kleinen Schritten geschieht. So kann es sein, dass in einem Moment die Kinderzimmertür krachend ins Schloss fällt, aber im nächsten der Zehnjährige sich doch wieder auf den elterlichen Schoss kuschelt.
Geniessen wir es, solange es noch anhält!