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«Welches ist Ihr Lieblingskind?»

Alle Mütter und Väter haben ein Lieblingskind, behauptet der US-Wissenschaftsjournalist Jeffrey Kluger in seinem neuen Buch zur Geschwisterforschung. Das darf doch nicht wahr sein!

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«Welches ist Ihr Lieblingskind?»

Alle Mütter und Väter haben ein Lieblingskind, behauptet der US-Wissenschaftsjournalist Jeffrey Kluger in seinem neuen Buch zur Geschwisterforschung. Das darf doch nicht wahr sein!

Eltern haben es nicht einfach. Entweder setzen sie dem Nachwuchs zu wenig Grenzen oder zu viele. Drücken den Kindern unnötigen Frühchinesisch- und Geigenunterricht auf oder fordern die Kleinen nicht genug. Kurz: Wie Mütter und Väter es auch anstellen, sie machen es verkehrt. Ein schlechtes Gewissen gehört deshalb zum Elternsein unweigerlich dazu. Damit nicht genug. Nun behaupten Forscher auch noch, Eltern, die ihre Kinder ungleich behandeln, würden damit einen seelischen Schaden anrichten und sie empfehlen: Wenn Sie schon ein Lieblingskind haben müssen – und angeblich hat jeder eines – lügen Sie wenigstens. Denn Kinder, die sich weniger geliebt fühlen, entwickeln Ängste oder Depressionen. Dies behauptet der amerikanische Wissenschaftsjournalist Jeffrey Kluger in seinem neuen Buch über Geschwisterforschung. Und sorgt damit für grosses Aufsehen.

Liebe versus Verbundenheit

Fragt man Eltern, ob sie eines ihrer Kinder vorziehen, ist die erste Reaktion meist entrüstetes Verneinen. «Natürlich nicht!», sagt etwa Irene, 35, Mutter von zwei Mädchen, «ich liebe beide gleich.» Nach einer Weile fügt sie jedoch nachdenklich hinzu: «Naja, vielleicht steht mir die Kleine, sie ist fünf Monate alt und sehr verschmust, ein wenig näher als die Zweieinhalbjährige, mit der ich gerade nur Machtkämpfe ausfechte.» Auch Stefan, 43, wehrt den Gedanken an ein Lieblingskind zunächst energisch ab. Um wenig später zu gestehen: «Mit meiner elfjährigen Tochter, sie ist extrovertiert und sehr erfolgreich im Schwimmclub, so wie ich früher, verbindet mich womöglich mehr als mit meinem achtjährigen Sohn, der eher nach meiner Frau kommt, recht ruhig ist und mit Sport wenig anfangen kann.»

Das Lieblingskind ist für die Eltern ein grosses Tabu. Die meisten erlauben sich nicht mal, darüber nachzudenken. Dabei werden in den meisten Familien Geschwister ungleich behandelt – stellte der Berliner Psychoanalytiker und Geschwisterforscher Horst Petri fest.
Gründe hierfür kennt die Forschung zahlreiche: So finden Eltern häufig zu demjenigen Kind mehr Zugang, das die grösste Leistung erbringt – sei es in der Schule, beim Sport oder im musischen Bereich. Dort eben, wo es etwas vorzuweisen hat, beziehungsweise Eltern mit ihrem Kind etwas vorzuweisen haben. Auch das Temperament des Nachwuchses, sein Aussehen und vor allem die Ähnlichkeit mit einem Elternteil bewegen Mutter oder Vater dazu, ein Kind zu bevorzugen. Leisten die Kleinen etwas, das Eltern in ihrer Kindheit versagt war, oder ähnelt die Tochter der eigenen Lieblingsschwester, neigen Eltern ebenfalls dazu, ein Kind zu favorisieren. Mütter ziehen dabei eher ihre Söhne vor, Väter ihre Töchter. Glaubt man diversen Studien, findet sich zudem das Erstgeborene am häufigsten in der Rolle des Favoriten.
Ein Lieblingskind zu haben, liegt also nahe. Und ist auch ganz natürlich. Schliesslich war ungleich verteilte Elternliebe in der Menschheitsgeschichte schon immer eher die Norm. Vor noch nicht allzu langer Zeit konzentrierten sich Mütter und Väter ganz selbstverständlich auf ihre ältesten und gesündesten Nachkommen; während die übrigen Kinder lediglich eine Art Rückversicherung waren, falls das kräftigste nicht durchkam. Auch dass der älteste Sohn den Hof erbte, war selbstverständlich. Ob sich der Zweitgeborene dadurch benachteiligt fühlte, interessierte niemanden. Heute hingegen gehört es im Rahmen der Liberalisierung und Demokratisierung zum Elternideal, Kinder gleich zu behandeln. «Das ist ein Trugschluss», warnt Petri. «Ob in Gesellschaft oder in der Familie: Das Prinzip der Ungleichheit herrscht immer vor. Dazu sind Kinder und auch Eltern einfach zu verschieden. Vergleiche werden zwangsläufig angestellt. Und daraus resultieren schliesslich Bevorzugungen.»

Fehlende Frustrationstoleranz

«Alle Mütter und Väter haben ein Lieblingskind» – das Statement des amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Kluger bricht also mit der Illusion, Eltern würden alle ihre Kinder gleich behandeln. Dass darüber nun eine Diskussion in Gang gesetzt wird, findet Petri höchst positiv: «Für Eltern ist diese Erkenntnis zwar zunächst schmerzhaft. Aber wenn sie beginnen, über die Beziehung zu ihren Kindern nachzudenken und sich fragen, ob sich eines benachteiligt fühlen könnte, ist bereits viel gewonnen.» Und er ergänzt, dass man nur Dinge korrigieren könne, die einem bewusst seien.
Den Nachwuchs ungleich zu behandeln, ist sinnvoll, da die Kinder verschieden sind, findet der Kinderarzt und Autor Remo Largo. Kinder wüchsen ganz selbstverständlich mit Ungleichheiten auf. Dies gehöre zur normalen Rivalität unter Geschwistern. Die Kleinen kämen damit gut klar. Schon mit drei, vier Jahren wüssten sie: Ich kann das besser als mein Bruder, er kann jenes besser als ich. «Kinder erwarten nicht, dass alle gleich sind», sagt Largo. «Schlimm ist es nur, wenn Eltern Wertungen einführen. Lässt man Kinder, regeln sie das alleine.»
Auch Horst Petri sagt, das Gefühl der Benachteiligung in der Kindheit sei eine wichtige Erfahrung; Kinder müssten lernen, damit fertig zu werden. «Für Geschwister ist dies ein grosser Vorteil, ihnen bietet sich hier nämlich ein gutes Übungsfeld.» Mit Geschwistern lerne der Mensch früh, Kompensationsstrategien zu entwickeln und Nischen zu suchen – womit kann die Gunst der Eltern erlangt werden? Die so gesammelten Erfahrungen kämen Kindern, die mit Geschwistern aufwachsen, später zugute. «Sie können Enttäuschungen, etwa im Berufsleben, besser verarbeiten.» Erwachsenen hingegen, die erst spät mit der Erfahrung der Benachteiligung konfrontiert seien, fehle oft die notwendige Frustrationstoleranz.

Lieblinge auf Zeit

Die Annahme der Eltern: «Wir müssen jedes unserer Kinder immer und jederzeit gleich lieben», ist also ein Mythos. Zur Entlastung des schlechten Gewissens von Mutter und Vater sei ausserdem gesagt: Eltern haben meist nur phasenweise ein Lieblingskind. Dass sie eines über lange Zeit favorisieren, ist eher selten. Irene kann also aufatmen: Spätestens wenn ihr bislang noch unkomplizierter Säugling ins Trotzalter kommt, wird sich die Favoritenkonstellation unter ihren Töchtern vermutlich ändern. Und auch bei Stefan kann dies der Fall sein. Hält allerdings die Antipathie für ein bestimmtes Kind über längere Zeit an, rät Psychoanalytiker Petri, betroffenen Eltern psychologische Hilfe zu holen. Aus dem andauernden Gefühl, benachteiligt zu sein, entstünden beim Kind sonst leicht Minderwertigkeitsgefühle, Depressionen und Hass auf die Geschwister.
Was aber können Eltern konkret tun, wenn sie merken, dass sie ein Kind dem anderen vorziehen? «Jedes Kind sollte so viel Zuwendung bekommen, wie es benötigt», sagt Largo. «Es geht um einen individuellen Umgang; Kinder brauchen unterschiedlich viel Zuwendung und Anerkennung – je nach Fähigkeit und Situation.» Zu fordern, Eltern sollten ihren Nachwuchs gleich behandeln, komme daher einer Ungleichbehandlung gleich. Allerdings setze individuelle Zuwendung Zeit voraus. Fühle sich ein Kind benachteiligt, gehe es nämlich meist darum, mehr Zeit mit ihm zu verbringen. Und diese sei heute eines der kostbarsten Güter, das Mütter und Väter ihren Kindern geben können. «Eltern müssen sich fragen, wie sie die Prioritäten setzen und ihre Zeit aufteilen wollen », sagt Largo, «zwischen Beruf, Freizeit und Kindern.»


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Das sagt die Forschung

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Erstgeborene
Einerseits sind laut einer französischen Studie die jeweils ältesten Kinder einer Familie weniger vertrauensselig, weniger kooperativ und deutlich konkurrenzbewusster als ihre jüngeren Geschwister. Was die Forscher mit dem Verlust der ungeteilten elterlichen Aufmerksamkeit begründen, der bei der Ankunft jüngerer Geschwister unweigerlich einsetze. Die älteren Kinder begännen ab diesem Zeitpunkt, stärker zu wetteifern und weniger zu kooperieren.
Andererseits zeigt eine norwegische Studie, dass nach dem Abschluss der Kindheit die Erstgeborenen einen messbaren Intelligenzvorsprung vor ihren Geschwistern haben und im Durchschnitt in IQ-Tests regelmässig mehr Punkte erreichen als die Geschwister. Sie profitieren wahrscheinlich von ihrer Rolle als Erklärer.

Sandwichkinder
Einerseits müssen Eltern Zeit und Geld auf mehr Köpfe verteilen, wenn die Familie wächst– was vor allem zu einer Benachteiligung der mittleren Kinder führt. Eine amerikanische Studie zeigt: Sandwichkinder bekommen über die gesamte Kindheit gerechnet zehn Prozent weniger Betreuungszeit als die Erstgeborenen und die Nesthäkchen.
Andererseits kann das Weniger an elterlicher Aufmerksamkeit durchaus auch positive Effekte haben: Mehrere Untersuchungen etwa zeigen, dass Sandwichkinder deutlich mehr diplomatisches Geschick und Pragmatismus entwickeln als ihre Geschwister.

Nesthäkchen
Einerseits gibt es Studien, die belegen, dass jüngere Geschwister häufiger eine lückenhafte Impfgeschichte aufweisen als ihre älteren Brüder und Schwestern – die sich noch der ungeteilten Sorge der Eltern erfreuen konnten. So kam eine britische Untersuchung zum Schluss, dass die Wahrscheinlichkeit, gegen Masern geimpft zu werden, bei jedem Kind um bis zu 20 Prozent sinkt.
Andererseits fand eine Untersuchung aus den USA heraus, dass Eltern ihren jüngsten Kindern mit höherer Wahrscheinlichkeit eine lange und kostspielige Ausbildung finanzieren – weil die älteren Geschwister dann schon finanziell unabhängig geworden sind.


Literaturtipps zum Thema:
Horst Petri: Geschwister – Liebe und Rivalität: Die längste Beziehung unseres Lebens. Kreuz Forum Verlag 2012. 28.90 Fr.

Jürg Frick: Ich mag dich – du nervst mich! Geschwister und ihre Bedeutung für das Leben. Huber Verlag 2009. 45.90 Fr.

Remo H. Largo: Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren. Piper Verlag 2011. 19.90 Fr.

Remo H. Largo: Kinderjahre. Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung. Piper Verlag 2011. 19.90 Fr.

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Jürg Frick
Psychologe an der Pädagogischen Hochschule Zürich

Kristina Reiss

Kristina Reiss

Einst Redaktorin beim «Tages-Anzeiger», später Korrespondentin in Shanghai, schreibt Kristina Reiss heute als freischaffende Journalistin leidenschaftlich über den Mikrokosmos Familie. Dabei interessiert sie sich für alles, was Menschen bewegt – ihre Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Hoffnungen.




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