Auf Wutausbrüche reagieren
Umso tabuisierter sind Übergriffe, wenn Eltern ihre Kinder auf Augenhöhe erzogen, ihnen alles geboten und auf vieles verzichtet haben. Vielleicht auch darauf, Grenzen zu setzen. Niemand will zurück zur schwarzen Pädagogik im Stil von Zucht und Ordnung. Die Schattenseite moderner Erziehung aber zeigt sich zuweilen in einer Rat- und Orientierungslosigkeit vieler Eltern. «Früher erhielt man bei Sorgen mit dem Nachwuchs Rat vom Pfarrer oder Arzt, und Frauen holten sich Erziehungsanleitung bei ihren Müttern», sagt Britta Went. Die Ratschläge entsprachen mehr oder minder einheitlichen Normen und Werten. Wo die Grenze unerwünschten Benehmens zu ziehen war, definierte die Gesellschaft. Das hat sich geändert. Die Deutungshoheit von «richtig» und «falsch» in der Erziehung liegt bei den Eltern, wobei sich viele im Dickicht von pädagogischen Konzepten verlieren.
Einer, der sich mit Konflikten innerhalb der Familie auseinandersetzt, ist Jesper Juul. Aggressionen sind für den dänischen Familientherapeuten zutiefst menschlich. Insbesondere Kinder und Jugendliche stossen beim Heranwachsen unzählige Male an Grenzen, die Wut auslösen: Ein Baby schreit, weil es Hunger hat. Das Kleinkind brüllt, wenn es den Teddy aus dem Spielwarengeschäft nicht behalten darf, das Schulkind schmeisst das Hausaufgabenheft in die Ecke und der Teenie findet die knappe Ausgangszeit eine Zumutung. Der Alltag von Kindern ist mit Frustrationen gepflastert. Für Jesper Juul ist der dabei empfundene Ärger ein legitimes Gefühl. Massgeblich sei, betont Juul in seinem Buch «Aggression», wie die Eltern mit Wutausbrüchen umgehen.
Ergreift eine Mutter, die von ihrer kleinen Tochter aus dem Blauen heraus «doofe Kuh» genannt wird, deren Oberarme, schüttelt sie und ruft laut und gehässig: «Sag nie wieder so etwas! Du bist ein schlechtes Mädchen, geh auf dein Zimmer, bis du bereit bist, dich bei mir zu entschuldigen. Geh!», reagiert sie abweisend und destruktiv. Konstruktiv sei es, wenn die Mutter freundlich und direkt in die Augen des Kindes schaue und sage: «Oje, bist du wütend. Ich wüsste gerne, was dich so ärgerlich gemacht hat. Kannst du mir das sagen? » Worte, Haltung und Körpersprache vermitteln dem Kind: Egal, worüber du dich so geärgert hast, ich bin für dich da!
Warum sich in einigen Familien die Gewaltspirale zu drehen beginnt, ist häufig nicht klar – und die Suche nach Gründen unergiebig. Denn sie führt oft statt zu Lösungen zu Anschuldigungen. Wichtiger als im Vergangenen zu wühlen ist es, eine Handlungsanleitung zur Verfügung zu haben, um einen Weg aus der vergifteten Stimmung zu finden.