Unser Sohn gehört mit seinen knapp 24 Jahren also zu den Frühausfliegern. Und ab morgen wird sein Zimmer leer sein. Schon länger durchkämme ich deshalb mein Gehirn nach Optionen, wie der verlassene Raum sich wieder füllen lässt: Vielleicht einen Obdachlosen aufnehmen? Mein Mann verdreht die Augen. An eine Studentin oder einen Studenten untervermieten? Als warteten junge Leute darauf, ein Zimmer bei einem «älteren Paar» zu ergattern. Zum Gästezimmer umfunktionieren? Vielleicht.
Suche nach neuen Beschäftigungen
Gedanklich versuche ich nicht nur das bald leere Zimmer, sondern auch das zeitliche Vakuum zu füllen. Andere kümmern sich in dieser Ausflugsphase intensiver um ihre gebrechlichen Eltern – meine sind schon tot. Oder soll ich wieder Klavier spielen, wie früher, lange vor der Kinderzeit? Uns würde womöglich wegen Lärmbelästigung die Wohnung gekündigt. Das Arbeitspensum aufstocken? Chinesisch lernen? Einen Bikram-Yogakurs besuchen?
Je verbissener ich nach Sinnstiftung suche, desto verlorener fühle ich mich. «Ist das alles nur potenzielle Beschäftigungstherapie?» Mit dieser Frage sitze ich jetzt bei Veronika Roth in ihrer Altbaupraxis in Zürich. Laut der Psychotherapeutin, die häufig mit Familien arbeitet, darf ich gerne alles ausprobieren.
Aber um den Abschied und die unter Umständen heftigen Gefühle komme niemand herum, sagt sie. «Nichts hilft über die vom Leben verlangte Ablösung hinweg – gut, wer sich das eingesteht.» Eine Lebensphase ist vorüber, das tut weh. «In jedem Menschenleben wird es Herbst, das ist mit Trauer und Wut verbunden.»
So fällt meine Mutterrolle nun also ab wie ein welkes Blatt. Wer bin ich jetzt?
Tröstlich ist es, nicht die einzige zu sein mit Abschiedsschmerz. Wir sind viele. So viele, dass in den 60er-Jahren in den USA eigens der Begriff «Empty Nest Syndrome» (ENS) geschöpft wurde und Eingang gefunden hat ins ICD 10 – «Internationale Klassifikation der Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation».
Pillen für Mütter in der Identitätskrise
Eine Anerkennung des Leidens – aber auch eine Goldgrube für die Pharmaindustrie. Denn viele Frauen, die ganz aufgingen in ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau, rutschten beim Wegzug ihrer Kinder in eine tiefe Identitätskrise.
Und so erhielt das damals neu auf den Markt geworfene Valium zusätzlich eine lukrative Zielgruppe. Die Pharma empfahl es Müttern – nicht aber Vätern – wärmstens gegen das Verlassenheitsgefühl. Von den Rolling Stones wurde die Beruhigungspille gar als «Mother’s Little Helper» besungen.
Das «Empty Nest Syndrome» ist keine Krankheit
Heute ist das «Empty Nest Syndrome» noch immer Bestandteil des ICD 10, aber nicht mehr als eigenständige Krankheit, sondern in der Kategorie «Anpassungsprobleme an eine Übergangsphase im Lebenszyklus», wie etwa die Pensionierung.
Und verlassenen Müttern werden keine Glücksmacher mehr angedreht. Wir haben diese auch nicht mehr nötig, denn die Rollenbilder haben sich gewandelt. Manche Mama ist heutzutage berufstätig, verfolgt ihre eigene Karriere und identifiziert sich nicht mehr ausschliesslich mit dem Muttersein. Das erleichtert das Loslassen der Kinder.
Umgekehrt bräuchte vielleicht der eine oder andere Papa heute «Father’s little Helper» beim Auszug des letzten Kindes. Denn auch die Vaterrolle hat sich verändert. Mein Mann lebte diese vor allem auch in den letzten Jahren aus. Bis heute gucken Vater und Sohn in inniger Verbrüderung Fussballmatches; nicht selten höre ich die beiden von lautem Gelächter begleitet im Wohnzimmer raufen oder während des Schachspielens fluchen.
Es wird still werden. Auch für meinen Mann. Und ja, auch er leidet. Vielleicht noch mehr als ich, weil es ihn irgendwie kalt erwischt. Bei mir gehörte es berufsbedingt dazu, mich mit dem Aufwachsen und Ablösen der Kinder auseinanderzusetzen. Mein Mann windelte, spielte, schimpfte und lachte mit den Kindern genauso wie ich. Über Phänomene wie das Empty Nest Syndrome aber dachte er im Vorfeld nie nach.