Oft ein vererbtes Problem
Doch wo beginnt das Ganze? Wo hätte man ansetzen müssen, um die Entfremdung zu verhindern? «99 Prozent der Menschen, die mit mir Kontakt aufnehmen haben Eltern, die selbst in hochproblematischen Beziehung zu Mutter und Vater stehen», sagt Haarmann. Es handelt sich also meist um ein transgenerationales Problem. Oder anders gesagt: Haben Eltern in ihren frühen Bindungserfahrungen nicht erlebt, wie es ist, Nähe zuzulassen, wirkt sich das auch auf das Verhältnis zu ihren eigenen Kindern aus. Was nicht verwunderlich ist – schliesslich prägt die Eltern-Kind-Beziehung extrem, ist sie doch die erste Beziehung im Leben eines Menschen.
Wie wichtig Beziehungen sind und welche Art von Verbundenheit wir Menschen brauchen, ist allerdings noch ein sehr junges Thema. «Heutige junge Eltern sind hier viel sensibler, trauen sich zu fühlen und legen eher den Finger auf Beziehungswunden», sagt Haarmann. Viele kommen auch zu ihr, weil sie die Muster der eigenen Eltern nicht an ihre Kinder weitergeben möchten – «während meine Generation noch gelernt hat, mit der Faust in der Tasche Weihnachten zu feiern».
Wird es künftig also weniger Entfremdungen zwischen Eltern und Kindern geben, weil junge Eltern heute mit ihrem Nachwuchs besser über Gefühle reden können? Die Psychotherapeutin ist skeptisch: «Das elterliche Unvermögen, Nähe zuzulassen, gepaart mit Druck, Forderungen sowie Kühle und Kälte in der Familie, ist nur ein Grund, weshalb sich Kinder von Eltern entfremden.» Tatsächlich bricht mancher Nachwuchs auch aufgrund zu viel Nähe den Kontakt zu Mutter und Vater ab. «Ich könnte mir sogar vorstellen, dass dieser Grund für Entfremdung noch zunimmt und das Pendel zurückschlägt», sagt Haarmann. Denn: Wer als Kind zu wenig Nähe erfahren hat, versucht oft, dies bei eigenen Kindern gutzumachen und überkompensiert leicht. Oft genug sitzen Klienten bei Haarmann, die sagen: «Ich halte diese Nähe nicht mehr aus, mir fehlt die Luft zum Atmen.»
Was hilft?
Wie jedoch begleiten Eltern ihr Kind beim Aufwachsen idealerweise – so, dass eine dauerhafte und nahe Beziehung entsteht? «Hier gilt es, die Balance zu finden zwischen Nähe und Autonomie», sagt die Psychotherapeutin. Kleine Kinder brauchen Geborgenheit, Halt und ein Gefühl von Sicherheit. Werden sie gross, gilt es allerdings auch zu akzeptieren, dass der Nachwuchs seinen eigenen Weg einschlägt. Konkret bedeutet dies: Eltern sollten mit ihren Kindern wertfrei und auf Augenhöhe kommunizieren, echtes Interesse zeigen und vor allem zuhören. Den Kontakt zu den eigenen Eltern abbrechen oder immer weniger werden lassen, ist oft das letzte Mittel. Kinder, die sich dafür entscheiden, tun dies in der Regel aus Selbstschutz. $
«Die meisten sagen: Ich liebe meine Eltern – aber so, wie es jetzt ist, kann ich nicht weitermachen», berichtet Haarmann. «Für mich sind Kontaktabbrecher* innen deshalb die eigentlichen Helden: Sie trauen sich, auf Dinge aufmerksam zu machen, die nicht gut laufen.» Dabei – und das betont die Fachfrau immer wieder – gehe es nicht um elterliche Schuld, sondern eher um Unvermögen. Mutter und Vater wollten in der Regel ja nur das Beste für ihr Kind. Läuft in der Beziehung etwas schief, geschieht dies meist aus Unwissenheit. Wichtig sei es dann, dass Eltern zuhören und Fehler eingestehen können. Überhaupt ist in Verbindung bleiben und offen miteinander reden die beste Prävention. Schliesslich entfremden sich Eltern und Kind nicht von heute auf morgen – diese Entwicklung bahnt sich vielmehr langsam an.
Kontaktabbrüche sind selten endgültig
Die gute Nachricht lautet jedoch: Die meisten Entfremdungen und Kontaktabbrüche sind nicht endgültig. Dies zeigt auch die deutsche Studie: So näherten sich in 62 Prozent der Fälle die Kinder ihrer Mutter wieder an und 44 Prozent ihrem Vater. Die Geburt von Enkelkindern kann helfen. Doch auch hier sind Klarheit und eine grosse Portion Gelassenheit von beiden Seiten essenziell: Junge Eltern müssen erst herausfinden, wie viel Unterstützung und Rat sie möchten. Grosseltern hingegen sollten zunächst abwartend zur Seite stehen und Hilfe nur anbieten, wenn diese gewünscht wird.
«Ich hege keinen Groll gegenüber meinen Eltern», sagt Philipp. Die wenigen zwischen ihnen ausgetauschten SMS bereiten ihm keine schlaflosen Nächte mehr. Auch eine Annäherung kann er sich vorstellen – «im Moment wüsste ich allerdings nicht wie». Wollen seine Kinder irgendwann mal Kontakt zu seinen Eltern, möchte er dem jedenfalls nicht im Wege stehen. «Die beiden wären sicher tolle Grosseltern», sagt er. «Schade, dass sie jetzt schon vier Jahre verpasst haben.»
Claudia Haarmann: Kontaktabbruch in Familien. Wenn ein gemeinsames Leben nicht mehr möglich scheint. Orlanda-Verlag 2019. Fr. 40.–