Auf Traurigkeit eingehen
Perry plädiert dafür, alle ernst zu nehmen und nicht mit einem «Das Kind ist hungrig/ müde/auf Ärger aus» abzutun. Was nicht bedeutet, dass wir alles toll finden müssen. Ich bin kein Fan von Wutanfällen. Aber ich möchte, dass mein Kind weiss, dass seine Wut in Ordnung ist oder dass es okay ist, traurig zu sein. Gerade Letzteres ertrage ich nur schwer. Ich wünschte mir, meine Tochter wäre auf ewig honigkuchenpferdglücklich.
Wie aber reagieren, wenn das Kind untröstlich ist? Mit einem «Pscht, das ist doch nicht so schlimm»? Mit diesem Satz, der alles wiedergutmachen soll? In ihrem Buch macht Perry deutlich, dass wir damit die Gefühle leugnen, die das Kind gerade spürt. Weil wir es vielleicht nicht dramatisch finden, wenn die Brotkruste nicht exakt so abgeschnitten wurde, wie es sich das vorgestellt hat. Oder weil wir seinen Schmerz nicht ertragen können.
Laut Perry kappen wir mit dem Verleugnen, mit gutgemeinten Ratschlägen oder gar Schimpfen die Kommunikation zu unserem Kind. Es wird sich uns nicht mehr mitteilen wollen, wenn es sich nicht ernstgenommen fühlt.
Eine Taktik, die ich zugegebenermassen selbst angewendet habe, nennt Perry den «Eichhörnchen-Effekt». Stellen Sie sich vor, Sie kommen von einem miserablen Tag im Büro nach Hause. Und erzählen davon Ihrem Partner, der erwidert: «Och, so schlimm ist das doch nicht. Schau mal da draussen, ein Eichhörnchen!» Sie würden sich verarscht vorkommen? Warum sollte es Ihrem Kind anders gehen, wenn Sie es von seiner Traurigkeit abzulenken versuchen, statt darauf einzugehen?
Es mag sich anfühlen, als verschlimmere man Gefühle, indem man sie benennt und einordnet, aber eigentlich hilft man damit bei deren Verarbeitung. Ein: «Ich höre dir zu, erzähl mir, wie sich das gerade für dich anfühlt» erwarten wir schliesslich auch von unserem Partner.
Gefühle ernst nehmen
Perry schreibt: «Wenn wir leugnen, wie sich ein Kind fühlt, laufen wir Gefahr, seine Instinkte abzuschwächen. Und die Instinkte eines Kindes machen es sicherer.» Ein Beispiel: Ein Kind beschwert sich über Omas Linseneintopf. Wird dieses Gefühl als nichtig abgetan, könne das Kind das Gefühl bekommen, mit Ihnen auch dann nicht darüber reden zu können, wenn der Klavierlehrer ihm die Hand aufs Bein legt.
«Der Unterschied zwischen diesen beiden Dingen ist uns nur allzu klar, doch ein Kind bucht beides unter ‹etwas Ekliges› ab. Und wenn Sie einige eklige Dinge als unwichtig abtun, wird es wahrscheinlich das Gefühl haben, dass es die Demütigung nicht wert ist, Ihnen noch mehr davon zu erzählen», schreibt die Psychotherapeutin.
Auf den ersten Blick erscheint der Vergleich zwischen einem misslungenen Gericht und einer unangemessenen Berührung unverhältnismässig. Mein erster Impuls ist, nicht wahrhaben zu wollen, dass mein Kind tatsächlich noch nicht genug Lebenserfahrung hat, um zwischen beidem unterscheiden zu können.
Wichtig, gerade auch für Corona-Zeiten, sind Perrys Ansätze zum Thema Grenzen. Wie formuliere ich diese, ohne dass es zum Eklat kommt? Wenn ich ständig auf die grosszügig in der Wohnung verteilten Legosteine, Stifte und Puppen steige? Oder das Kind nicht einsieht, dass Mama arbeiten muss, auch wenn das gerade im Homeoffice ist.
Perry schlägt vor, das Problem zu benennen, indem Sie sich selbst und nicht das Kind definieren. «Ich brauche Ordnung und möchte, dass du aufräumst» sei Erfolg versprechender als ein «Immer lässt du deinen Kram herumliegen». Niemand mag es, in eine Schublade gesteckt, von anderen definiert zu werden.
Perrys Buch hat unser Zuhause nicht sofort in einen Hort der Glückseligkeit verwandelt. Aber doch einige brenzlige Situationen entschärft. Tatsächlich ist Perry ganz nah an den Problemen, die in den meisten Familien gewälzt werden. Irgendwann schreibt sie die beiden Sätze, die mich innerlich purzelbaumschlagen lassen: «Bei Kindern ist fast alles eine Phase. Es ist also in Ordnung, sich dem anzupassen, was gerade funktioniert, so seltsam es auch sein mag.»