Zuoberst auf der Warteliste
Wochenlang sitzen Karin und Daniel im Krankenhaus am Bettchen ihres Babys und suchen in den Gesichtern des Personals nach Antworten auf die letzte Frage: Wird unser Kind überleben? Hiobsbotschaften zerstören Hoffnungsschimmer, Komplikationen ruinieren Kraft und Lichtblicke. Am Bett ihres Kindes tagsüber sind sie stark, nachts aber weinen sich die Eltern zuhause in den Schlaf.
«Ich schloss mit dem Leben meines Kindes ab – aus Selbstschutz», erzählt Karin. Um gegen alles gewappnet zu sein, holt sie den reformierten Spitalpfarrer und lässt es nottaufen.
Ivana überlebt. Doch jetzt ist klar – das Mädchen braucht ein neues Herz. Dringend. Deshalb steht ihr Name bald weit oben auf der Warteliste für Transplantationen. Auf dieser werden kleine und grosse, lebensgefährlich versehrte Patienten aufgenommen. Wer zuoberst ist, erhält das nächste, passende Organ.
Doch mit der Blutgruppe 0 positiv ist die Chance, für Ivana ein passendes Herz zu finden, klein. Der Spender oder die Spenderin muss ebenfalls 0 positiv sein. Der erlösende Anruf bleibt zwei Jahre lang aus, die Eltern bangen täglich um das Leben ihres Kindes. Ivana lernt nicht sprechen und nicht gehen, erbricht sich oft. Manchmal muss Karin sie nachts mehrfach duschen und das Bettzeug wechseln. Wie Karins Körper es schaffte, in dieser Zeit noch ein zweites Kind auszutragen, weiss sie nicht. Denn stets lebte sie mit der Stimme der Ärzte im Ohr: «Sie müssen darauf vorbereitet sein – Ivana kann eines Morgens tot im Bett liegen.»
Dann geht alles schnell. Im April 2013, mitten in der Nacht, draussen stürmt und regnet es, ruft Swisstransplant an, die Stiftung für Organspende und Transplantation. Kurz darauf wird Ivana mit dem Krankenwagen daheim abgeholt.
Herzen, die verpflanzt werden, dürfen nur kurz ausserhalb des Körpers sein, die Entnahme, der Transportweg und die Einpflanzung nicht länger als vier Stunden dauern. Am äussersten Rand des geografischen Radius liegen Barcelona, Palermo, Stockholm, Bukarest oder Vilnius. Von da aus lässt sich ein Herz innert nützlicher Frist mit dem Jet nach Zürich fliegen. Auslandangebote treffen bei Swisstransplant per Kurznachricht ein. Blitzschnell gleicht das Team Alter und Blutgruppe ab, prüft die Qualität des angebotenen Organs und informiert das Transplantationszentrum. Danach greifen die Handlungen von Herzchirurgen, Narkose- und Pflegepersonal, Piloten und Flugbegleitung in einem logistischen Grossreigen wie Zahnrädchen ineinander. Die Handgriffe sind minutiös aufeinander abgestimmt, nirgends sonst scheinen Tod und Leben so eng umschlungen zu tanzen wie bei einer Herztransplantation.
Die Ärzte entnehmen Ivanas kleinem aufgesägten Brustkorb das todkranke Herz, ersetzen es mit dem neuen, und vernähen die Venen und Arterien in präziser Handwerksarbeit. Das Herz, kurz zuvor einem verstorbenen Kind entnommen, beginnt erst zaghaft, dann immer entschlossener zu schlagen.
«Ich vergesse nie die rosa Hautfarbe nach der Operation – so habe ich Ivana noch nie gesehen», erzählt Karin. Und nimmt endlich einen Schluck aus dem Wasserglas, das lange unberührt vor ihr gestanden hat.
Mittlerweile hat sich auch Daniel aufs grosse Sofa hinzugesetzt. Von seinem Job als Autoverkäufer konnte er sich heute ausklinken. Während Karin meist sprudelnd in allen Einzelheiten erzählt, ist Daniel eher der ruhige Typ. Doch dann sagt er diesen einen Satz, der mit geballter Wucht die Ohnmacht eines Vaters widerspiegelt, dessen Beschützerinstinkt von der schweren Krankheit eines Kindes unterhöhlt wird: «Wir werden Ivana wahrscheinlich überleben.» Niemand kann prophezeien, wie lange Ivanas Körper das neue Herzchen akzeptiert. Ein transplantiertes Kinderherz wächst zwar mit und kann bis zu 30 Jahre funktionieren. Dann aber wäre eine nächste Transplantation notwendig. Ob sich zu gegebener Zeit erneut ein Herz finden lässt, weiss niemand. «Deshalb», sagt Daniel, «haben wir gelernt, ganz im Moment zu leben und jeden Tag zu geniessen.» Als Ivana das erste Mal allein Velo fährt, rinnen ihm vor Freude die Tränen über die Wangen.
Ivanas Start damals schien aussichtslos – inzwischen hat sie sich das Leben zurückgeholt. Jetzt kommt sie aus ihrem Zimmer gehüpft und springt wie ein Gummiball durch die Stube. Ivana geht zur Schule, zum Turnen, zum Schwimmen. Fragen ihre Freundinnen, weshalb sich Narben über ihren Bauch ziehen, erklärt sie kurz angebunden, was Sache ist. Dann wird weitergespielt. Mit lilafarbenen Einhörnern etwa, die Ivana sammelt, oder dem roten Kinderstethoskop, das sie in ihrem Lieblingsköfferchen hütet wie ihren Augapfel. «Vielleicht», sagt sie, «will ich Ärztin werden.» Doch dann überlegt sie kurz und schiebt schelmisch nach: «Oder vielleicht möchte ich doch lieber eine Katze werden – im Spital ist es doch sooo langweilig!»