Psychologische Hilfe
Sandro Färber, Mikas Vater, sieht dem Sohn stolz zu. «Er wird seinen Weg schon machen…» Die Frage der Mutter, was denn sei, wenn Mika später als Fernsehmoderator oder am Schalter einer Bank arbeiten wolle, haben sich weder Vater noch Sohn je gestellt. «Ich will sowieso Polizist werden», ruft Mika ungerührt und kickt weiter. Ja, klar, er sieht seine pinken aufliegenden Narben, ja, auch dass er noch ein paar Mal von Clemens Schiestl Haut vom Kopf an den Oberkörper verpflanzt bekommen muss, weil Narbengewebe eben nicht mitwächst, das ist richtig grosser Mist. Und auch die Leute, die ihn heimlich anstarren, aber sich nicht trauen zu fragen: «Was ist dir passiert?» nerven den Jungen. Aber meist vergisst er das. Jetzt zum Beispiel. Da stehen am Garteneingang nämlich zwei Nachbarskinder, denen er nicht mehr erklären muss, was mit seinem Gesicht los ist und die ihn zum Velofahren abholen wollen.
Sandra Färbers Augen flackern kurz unruhig. Aber Angst hin, Angst her, man kann den Bub schliesslich nicht unter eine Glasglocke setzen. «Uns hilft es, dass unsere ganze Familie psychologische Unterstützung bekommt», sagt sie. «Denn was mit Mika passiert ist, ändert schliesslich das komplette Familiensystem. Er ist der Fixstern, wir anderen kreisen um ihn. Auch die beiden grossen Geschwister.»
Flucht nach vorn
Etwas Normalität zurückzubringen, dabei versuchen Clemens Schiestl, Ornella Masnari und all die anderen vom «Zentrum Kinderhaut» zu helfen: indem sie Familien vernetzen, deren Kinder auch ein «Dings» haben, Camouflage-Beratung anbieten, mit der Familie über Schuldgefühl und Angst sprechen, über Medikamente, Sorgen und über das, was einen Menschen schön und liebenswert macht. Und sie dopen den Mut. Ohne den traut sich schliesslich kein Mensch und erst recht kein Kind auf Fremde zuzugehen und zu sagen: «Schau mich ruhig an. Frag, was du wissen willst.» Je eher die Flucht nach vorn beginnt und je jünger, desto leichter – für alle.
Jill ist erst zweieinhalb. Locken, Grübchen, ständiges Hüpfen und Tüpfchen überall. Braune Punkte, als sei ein Trecker direkt vor ihr durch den Schlamm gefahren. «Kutane Mastozytose» heissen die Tupfen. Gefährlich sind sie nicht. Bestimmte, für die Pigmentierung zuständige Zellen arbeiten einfach übereifrig. Wo bei der Geburt ein Pünktchen war, sind wenige Wochen später Hunderte, der Grund dafür ist noch unklar.
Jill findet die Punkte schick. Die Schildkröten in ihrem Aquarium haben einen Panzer, die Fische haben Schuppen, sie hat Tupfen. Wo ist das Problem? «Bei anderen Müttern», sagt Anita Albrecht, Jills Mama. Auf dem Spielplatz rissen die nämlich schon mal ihre Kinder weg, wenn Jill kommt, oder «Was macht einen Menschen eigentlich schön und liebenswert?» nähmen ihren Nachwuchs aus dem Sandkasten, weil sie denken, das getupfte Kind sei ansteckend. Oft sitzt Jill dann allein.
«Entweder geht man daran kaputt oder in die Offensive», sagt die 25-Jährige. Die Albrechts haben sich für die Offensive entschieden. Babyschwimmen und Badi, kurzes T-Shirt, Shorts. «Wir verkriechen uns nicht.» Warum auch? «Wenn man doch nur nicht ständig das Gefühl hätte, dass hinter dem Rücken geredet würde», seufzt Anita Albrecht. «Ich wünschte, die Leute würden uns einfach geradeheraus fragen.»
Richtig. Genau das findet auch Loris. Meist. Ausser wenn er schwer genervt ist. Dann sagt er schon mal mit Grabesstimme und streckt die Arme dabei ganz weit auseinander: «Ich bin total unter einen riiiiiiiieeeeesig grossen Lastwagen gekommen. Aber ich habe überlebt. Krass, oder?» Das stimmt zwar nicht, aber dann ist wenigstens Ruhe.
In Männedorf radelt Mika mit dem Velo los. In Baar saust Loris’ Rennauto mit Vollgas gegen das Tischbein. Jill malt in Wetzikon ein Bild mit sehr viel Lila für Mama. Narben? Punkte? Flecken? Irgendein Dings? Ist den Dreien im Augenblick wurscht. Sie lachen, sie spielen.
Trotz der Hautsache sind sie in der Hauptsache Kinder.
➺ Infos unter: hautstigma.ch