Der erste Enkel mit 55
Im Drei-Generationen-Haushalt von Doris Bättig setzt man in Sachen Hausarbeit auf das Modell «kollegiale Arbeitsteilung»: Grossmama Doris wäscht ab, Mama Michelle kocht, Enkel Jamal schaut vom Küchenschemel aus zu. Auch er hat sich ein Ämtli ausgesucht. «Beim Znacht füttert er mich mit Salat», erzählt Doris Bättig. «Er ist dabei richtig eifrig, ich muss aufpassen, dass er mir mit der Gabel nicht die Zunge pierct.»
Kameradschaftlich geht es auch in der Wohnung Passerini zu und her – und die Hausarbeit den drei Mitbewohnern von der Hand, oder vielmehr: von den sechs Händen. Denn nach dem Umzug vom Einfamilienhaus in die Wohnung haben Madelaine und Thomas Passerini mit dem jüngsten Sohn, der noch studiert, eine Familien-WG gegründet. «Das funktioniert gut», meint Madelaine Passerini, die in der Kulturförderung arbeitet. «Jeder beteiligt sich am Haushalt, wenn auch wir Älteren etwas mehr. Wir haben alle einen intensiven Alltag.»
Heute sind Schweizer Frauen bei der Geburt des ersten Enkels im Durchschnitt 55 Jahre alt. Sie stehen also mitten im Berufsleben. Madelaine Passerini lag mit ihren gerade mal 50 Jahren deutlich unter dem Durchschnitt, auch ihr jüngster Sohn war erst 21 und wohnte noch zu Hause, als seine Mutter zur Grossmutter wurde. «Ich fand es sehr schön, Grossmama zu werden. Aber ich hatte mich gerade auf einen Lebensabschnitt ohne kleine Kinder eingestellt und musste diesen abschliessen, bevor er begonnen hatte. Ich fühlte mich unweigerlich älter.» Ihr Mann Thomas war damals 52 und kalauerte: «Meine Tochter kriegt ein Kind, nicht ich werde Grossvater.»
Wunsch-Enkelkinder
Anders erging es Doris Bättig: «Ich war genau im richtigen Alter, um Grossmutter zu werden», erinnert sich die 62-Jährige zurück an den Tag vor knapp drei Jahren, als sie mit der damals 17-jährigen Tochter wegen einer Erkältung zum Arzt ging. «In der Praxis wollte sie plötzlich einen Schwangerschaftstest machen», erzählt die heutige Grossmutter. «Die Arztgehilfin brachte den Test mit einem big smile im Gesicht zurück – da habe ich einfach mitgelacht.»
«Für die meisten ist es das absolute Highlight in ihrem Leben, Grosseltern zu werden. Zu sehen, wie die familiale Generationenfolge fortgesetzt wird, ist einfach ergreifend», erklärt Psychologin Pasqualina Perrig-Chiello. Eine bedeutende Rolle spielt dabei auch, dass sich das zahlenmässige Verhältnis zwischen Grosseltern und Grosskindern mit den Jahrhunderten verschoben hat: Früher waren Familien mit fünf Geschwistern keine Seltenheit, umgekehrt sah es mit den Grosseltern aus: Sie hatten Seltenheitswert. Heute sind die Verhältnisse anders: Manches Kind erlebt noch alle vier Grosseltern. Dafür bringen Schweizerinnen im Durchschnitt gerade mal 1,5 Kinder zur Welt. Die Folge? Während früher eine Grossmutter gut und gerne anderthalb Dutzend Enkel zu den ihren zählen konnte, ist heute oft ein einzelner Enkel ein Fall für zwei – nein, sogar für vier Grosseltern. «Der Kuchen, von dem die Grosseltern ein Stück wollen, wird kleiner», veranschaulicht es der Soziologe und vierfache Grossvater François Höpflinger augenzwinkernd. Neben das in der heutigen Gesellschaft etablierte Bild vom ersehnten Wunschkind gesellt sich immer häufiger auch das des ersehnten Wunsch-Enkelkinds.
Pasqualina Perrig-Chiello schildert, warum: «Ein Grosskind ermöglicht der Grosselterngeneration höchst erfreuliche Erfahrungen und sinnstiftende Aufgaben, also eine willkommene neue Rolle.» Es ist eine Rolle, die Grossmutter Doris Bättig mit viel Bauchgefühl, Optimismus und Gelassenheit ausfüllt. Schon vor der Geburt des Enkels Jamal habe sich in der Familie Bättig vieles spontan ergeben. Etwa, als eine Freundin der Tochter in der Pubertät bei Bättigs einzog. Später, als Tochter Michelle mit ihrem Freund keine Wohnung fand, teilte man die elterliche Wohnung kurzerhand mit dem jungen Paar. «Es war Michelles Nest. Und mittlerweile ist es eben das Nest ihrer kleinen Familie», meint Grossmama Doris, die bis heute als Psychiatriepflegerin arbeitet. Zukunftsperspektiven und Pläne en détail absprechen? «Ich nehme es lieber, wie es kommt», meint Doris Bättig.