Unnötiger Stillzwang
«Es ist falsch, wenn wir das Stillen einzig auf die Frau reduzieren», sagt Katharina Lichtner (54) im Gespräch mit «wir eltern». «Natürlich ist die Mutter die Person, die das Kind stillt – oder eben nicht. Doch ihre Entscheidung hängt sehr stark vom gesellschaftlichen Kontext ab, in dem sie sich bewegt.»
Die promovierte Immunologin ist seit sechs Jahren Geschäftsleiterin der Familie Larsson-Rosenquist-Stiftung. Sie hat ihren Sitz in Frauenfeld (TG) und gehört weltweit zu den wenigen gemeinnützigen Organisationen, die sich ausschliesslich für die wissenschaftliche Erforschung der Muttermilch und deren öffentliche Anerkennung einsetzen. Seit 2015 finanziert die Stiftung an Universitäten weltweit Lehrstühle, die sich mit dem Stillen befassen; bisher sind es sechs Forschungszentren, wovon zwei an der Uni Zürich.
Die Mittel der Stiftung kommen von Dividenden aus den Aktien der Olle Larsson Holding; der Gründer von Medela, Herstellerin von Stillzubehör, hat sie der Stiftung 2013 übertragen. So sehr Katharina Lichtner von den Vorteilen der Muttermilch überzeugt ist – sie selber hat ihre beiden Söhne neun Monate gestillt und mit ihrem heutigen Wissen würde sie es noch deutlich länger tun, wie sie sagt – betont sie doch: «Entscheidet sich eine Frau, ihr Kind nicht zu stillen, ist das ihr Recht, und es gilt, dies zu akzeptieren, denn es ist wichtig, dass wir im Grundrechtskontext bleiben.» Anderseits sei es durchaus gerechtfertigt, sich zu bemühen, bezüglich Stillen in der Gesellschaft einen möglichst hohen Grad an Bildung und Akzeptanz zu erreichen.
Es genügt nämlich nicht, wenn sich nur die Mütter und Gesundheitsfachleute klar darüber sind, wie wichtig Muttermilch für das Kind ist. Auch Väter, Schwiegermütter, Arbeitgeberinnen, Politiker, ja, alle, die einer Mutter mit Säugling im Laufe eines Tages begegnen, müssen wissen, dass Muttermilch nicht nur Nahrung für das Kind ist, sondern eine Investition in sein Wohlbefinden und seine zukünftige Gesundheit.
Vielleicht ändert sich dann die Haltung auch bei den Leuten, die immer noch finden, Stillen im öffentlichen Raum sei unangebracht. Laut einer Umfrage des Milchpumpenherstellers Elvie von 2021 sind dies schweizweit nämlich 60 Prozent. Und wenn wir schon dabei sind: Schwierig ist für alle Frauen, die auf ein Erwerbseinkommen angewiesen sind, dass sie nur 14 Wochen bezahlten Mutterschutz erhalten. Abpumpen am Arbeitsplatz ist in vielen Berufen eine Herausforderung.