Von Hesse bis Harry Potter
Wer Maryanne Wolf begegnet, und sei es nur via Bildschirm, weiss augenblicklich um die Liebe dieser Frau zum Buch. Bald trägt sie aus dem Stand und mit ausladender Geste aus einer Gutenachtgeschichte vor, die sie einst ihren Söhnen erzählte, bald erweist sie Hermann Hesse ebenso aufrichtig die Ehre wie Harry Potter. Ganz in Texten zu versinken – das ist für sie aber weit mehr als ein wunderbares Hobby. Die Entwicklungspsychologin und kognitive Neurowissenschaftlerin beschäftigt sich schon viele Jahre damit, was im Gehirn geschieht, wenn wir lesen. Sie ist überzeugt: Kinder eignen sich mit diesem dichten, ganz absorbierten Lesen entscheidende Kompetenzen für die Zukunft an: Sie lernen, Analogien zu bilden und die Welt im Buch mit der eigenen abzugleichen, Geschichten auf ihre Plausibilität hin abzuklopfen, Schlussfolgerungen zu ziehen. Sie proben, von gedruckten Worten zu eigenen Gedanken zu gelangen.
Und nicht nur das: Kinder lernen mit Büchern, was Mut ist und was Toleranz. Sie erfahren, wie es ist, steinreich zu sein oder mitten im Krieg aufzuwachsen, was Hinterlist bedeutet. Wie es ist, einen Haufen Geschwister zu haben oder so klein zu sein, dass man in eine Westentasche passt. Es zähle zu den «wichtigsten, wenn auch völlig unzureichend gewürdigten Leistungen einer intensiven Lektüre», schreibt Maryanne Wolf in ihrem Buch, dass sie uns erlaube, «sich auf die Perspektive und das Empfinden anderer einzulassen». Erst wenn wir uns ganz in einer Geschichte verlieren, stellt sich im besten Fall ein, was uns in Begegnungen im digitalen Raum gerade immer mehr abhandenkommt: Empathie.
All diese Prozesse erfordern jedoch Zeit: Worte, Sätze so lange wirken zu lassen, bis daraus Bilder und Fragen aufsteigen. Wahrheit von Erfindung zu trennen. Einsicht und Erkenntnis zu gewinnen. Natürlich, Kinder müssen seit jeher erst einüben, sich ganz auf eine Sache zu konzentrieren. Leicht war das noch nie. Gerade dürfte es aber noch ein ganzes Stück schwerer geworden sein. Lesen zu lernen, sodass wir davon mehr mitnehmen als einen wilden Haufen von Informationsbröckchen, ist eine langsame Tätigkeit, sie verlangt Ausdauer. Wo die nächste Ablenkung immer nur einen Swipe weit entfernt ist, mögen und vermögen Kinder diesen Aufwand weiterhin zu leisten? Sind wir Erwachsenen überhaupt selbst noch willens, uns diese Fähigkeiten zu bewahren?