Weniger Sex, mehr TV
Während ich gelassen dem entgegenblicke, was noch kommt, stellt sich bei M. langsam Angst ein. Sie hatte bei Bens Geburt das sogenannte HELLP-Syndrom, eine Schwangerschaftsvergiftung, und davon ist eine traumatische Erinnerung geblieben. Sie befürchtet, dass sich der Vorfall wiederholen könnte und sie oder das Kind diesmal nicht mit dem Leben davonkommt. Der Arzt sagt: Das neue Erbmaterial verringert das Risiko auf eine Wiederholung. Ich sage: Es kommt schon gut. Aber gutes Zureden tilgt die Angst nicht: Hat sie Bluthochdruck oder Kopfschmerzen, verkrampft sie sich gleich. Ich selbst fürchte mich vor viel profaneren Dingen wie wenig Schlaf, pausenlosem Geschrei, davor, das Kind hässlich zu finden, es fallenzulassen, ihm unbeabsichtigt das Genick zu brechen, kaum noch Sex und dafür 18 Jahre keine Ruhe mehr zu haben, mit meiner Verantwortung nicht umgehen zu können oder unter vollen Windeln begraben zu werden. Auch vor der Reaktion meines Stiefsohns Ben habe ich Respekt. Was, wenn er mit seiner «Degradierung» nicht zurechtkommt, nicht akzeptieren kann, dass sich nicht mehr alles nur um ihn dreht? Wird er Eifersuchts- und Wutanfälle haben? Oder wird er sich rührend um sein Geschwisterchen kümmern?
2. Termin beim Arzt, wir sind in der 16. Woche. Auf dem Ultraschallbild erkenne ich die Zehen. Der Rücken ist nicht offen. Meistens verstehe ich nicht, wovon M. und der Arzt reden. Von Thrombozyten höre ich zum ersten Mal. Ich sitze also eher unbeteiligt da. Vor lauter Fragen weiss ich nicht, was fragen, ausser vielleicht «Könnten Sie mir das alles mal erklären?» Und dann fuhrwerkt der Arzt auch noch mit grotesken Instrumenten an meiner Freundin herum. Es ist befremdend, ja leicht beschämend. «Ich bin zufrieden mit Ihrem Kind», sagt der Arzt am Ende. Aha, alles gut.
«Komisch», sagt M. nach dem Arzt-Besuch, «ich habe etwas 15 Zentimeter Langes in mir drin und spüre nicht mal etwas.» Ich kann mir das «that's what she said» und das Gelächter obendrein nicht verkneifen.
Aber Schluss mit lustig. Ich muss zum Amt, zur vorgeburtlichen Vaterschaftsanerkennung. Ohne Frau, dafür mit Identitätskarte lasse ich beglaubigen, dass ich der Vater des Ungeborenen im Bauch meiner Freundin (nicht anwesend) bin. Eine äusserst abstrakte Begebenheit. Aber es passt.
Unsere Beziehung hat sich bis zu diesem Zeitpunkt nur geringfügig verändert: Wir haben weniger Sex, schauen mehr fern, sie schläft auf der Couch ein, im Bett schnarcht sie und ich habe noch weniger Platz als sonst. Die biologischen Zwänge, die auf M. einwirken, machen sie zu einer Befindlichkeits-Maschine: «Ich bin müde/hungrig, mir ist kalt/übel, ich könnte den ganzen Tag essen/schlafen/aufs Klo» – solche Sätze machen einen grossen Teil unserer Konversation aus. Trotzdem bin ich nach wie vor überrascht, wie reibungslos alles bis jetzt läuft.
Nase, Öhrchen – alles ist da.
3. Termin: 20. Woche: Kleinhirn, vier Herzkammern, Schamlippen, Nieren, Länge: 25 cm. Es ist also ein Mädchen. Wer hätte das gedacht. Ich jedenfalls nicht. Immer, wenn ich mir mein Kind vorstellte, sah ich einen kleinen Jungen. Vielleicht hat das mit dem Trieb zu tun, sein Erbmaterial zu verbreiten. Ich ging davon aus, dass mein Kind ein kleines Abbild von mir sein wird. Eine Kopie, ein Mini- Me. Jetzt wird es also eine Mini-She. Damit muss ich mich erst einmal anfreunden. Kleine Mädchen sind mir bisher nie aufgefallen (komisch, dass da so ein anrüchiger Ton mitschwingt). Darum beobachte ich jetzt vermehrt Mädchen (da, schon wieder). Was tun die so? Wie sind die so? Worüber sprechen sie? Worüber lachen sie? Ich werde ein wenig unsicher: Ich habe Frauen noch nie verstanden, wie soll das jetzt bloss werden?
Die Tage sind bestimmt von Nesttrieb und Stimmungsschwankungen. Wir kaufen erste Kleidli (kein Rosa, sage ich), bestellen die Wickelkommode, die ich zusammenbaue. Ich übe mich darin, Verständnis zu haben. Und träume von Babys. Ein Traum ist sehr konkret: Das Baby ist da, es ist ein Junge, also doch, schön. Er spricht, er widerspricht, ach. Ich wache auf und denke: Ein Mädchen ist doch ganz lässig.
4. Termin: 24. Woche: 500 Gramm. Zum ersten Mal macht der Arzt einen 3D-Ultraschall. Eindrücklich, wie kindlich dieses Wesen schon aussieht. Nase, Öhrchen, alles da.
M. beschäftigt sich stark mit ihrer Figur. Was darf sie essen? Wie kann sie sich noch sportlich betätigen? Ich halte ihr die Hand auf den Bauch. Sie sagt: «Schau! Fühl mal!» Wir entscheiden uns, einen Konkubinatsvertrag aufzusetzen und eröffnen ein gemeinsames Konto. Wir streiten auch, wegen Nichtigkeiten oder – immer wieder – wegen Ben.
Manchmal wünschte ich, ich könnte denselben Prozess durchlaufen wie sie. Ich hätte gerne schon diesen starken Bezug, diese Innigkeit, auch wenn sie mit Ängsten und Nebenwirkungen verbunden wäre. Stattdessen beschränkt sich meine Beziehung zu meiner Tochter auf ein Abtasten: Ich bin ihr nur so nahe wie ein Verurteilter im Hochsicherheitstrakt seinem Zellennachbarn. So aussen vor wie ich bin, käme ich nicht auf die Idee, einen Kinderwagen zu beschaffen oder zu evaluieren, welches Spital für uns geeignet wäre. Vielleicht bin ich auch zu faul. Mit dem Hintergedanken «Der grosse Knall wird noch kommen», versuche ich, diese Galgenfrist noch zu geniessen.
Kochen, Trösten, Prellbock spielen
Dass M. schon ein Kind hat, ist sicher ein Vorteil. Damit hat wenigstens einer von uns eine Idee, was auf uns zukommt. Auch von der grossen Tristesse der zerschlagenen Zweisamkeit bleiben wir wohl verschont – wir sind ja schon zu dritt. An alles Administrative hat sie längst gedacht: Kinderarzt, Krippenplatz, Krankenkasse. Während ich immer noch glaube, ein Baby brauche lediglich Milch und saubere Windeln.
Wir besuchen den Informationsabend für werdende Eltern am Universitätsspital Zürich. Ein Hörsaal voller fleischgewordener Ängste – und ihrer Begleiter. Ist bei der Geburt ständig ein Arzt anwesend? Was passiert bei einem Dammriss? Die Frauen fragen, die Männer nicken. Mir selbst bringt der Anlass nicht viel, zumal ich den Ärzten blind vertraue. Muss ja, selbst können wir das Baby nicht entbinden.
5. Termin: 28. Woche: Wir erkennen Elle und Speiche, die Nabelschnur hat einen leichten Rücklauf. Das ist gut. Und ich habe meine Aufgabe beim Frauenarzt gefunden: Ich denke jeweils an den USB-Stick, auf den der Arzt später die Ultraschall-Bilder kopiert.
Natürlich muss auch langsam ein Name her – aber so einfach ist das nicht: Wir wollen keinen Namen von der Stange, einen solchen, wie ihn jetzt jeder hat, weil es gerade trendy ist. Aber auch keinen arg ausgefallenen, der extra aus der Reihe tanzt. Unsere Kriterien: Unsere Tochter soll ihren Namen möglichst nie buchstabieren müssen. Er darf nicht in der Hitparade der letzten fünf Jahre stehen. Er soll kurz sein und sie soll nicht der erste Mensch auf der Welt sein, der ihn trägt. Schnell haben wir uns auf einen Favoriten geeinigt und verschweigen ihn eisern.
6. Termin: 30. Woche. Die Durchblutung der Gebärmutter ist in Ordnung, dadurch verringert sich das Risiko einer verfrühten Geburt. Der Arzt fragt: «Und wie geht es Ihnen? » Ich: «Gut. Ich bin erstaunt, wie unbeschwert bis jetzt alles lief.» Er: «Glauben Sie bloss nicht, Sie werden verschont.»
Da M. immer noch sehr gut funktioniert, ertappe ich mich häufig dabei, wie ich nicht sonderlich zuvorkommend bin. Ich lerne auch, dass es Dinge gibt, die man Schwangeren nicht sagen sollte. Oder Frauen generell. Ich helfe aber doch, so gut es geht: Sachen tragen, Unterhaltung beschaffen, kochen, trösten, gut zureden, den Bauch fühlen, massieren, Prellbock spielen. Oft bin ich die Stimme der Vernunft: «Übernimm dich nicht! Mach mal wieder Pause! Sag besser mal Nein! Lass mich das machen!» Meine Meinung muss ich nicht unbedingt durchsetzen. Das wäre ja so, als würde ich einem Autofahrer, der mich freundlicherweise in die Stadt fährt, vorschreiben, welche Route er zu nehmen hat.
Ich merke aber auch, dass ich ein wenig distanziert bin. Dieser Schwebe-Zustand dauert nun schon zu lange an. Diese Freude auf das Ungewisse vermag mich nicht neun Monate lang auszufüllen. Ich habe mich schon so an das Warten gewöhnt, dass jenes Ereignis, das ich sehnlichst erwarte, in die Ferne gerückt ist. Absurd.