In der Garderobe des Kindergartens wimmelt es wie in einem Ameisenhaufen. Es ist kurz vor acht in der Früh, Lewin sucht seinen rechten Finken, Sophie träumt vor sich hin und Klara kämpft mit ihrem verknoteten Schal. Kurzum: alles total normal. Und doch – irgendetwas ist anders. Es ist gar nicht so einfach, das Problem einzukreisen. Wer genauer hinhört, bemerkt aber Besonderheiten. Die Kleinen sprechen auffallend undeutlich und wiederholen sich öfter als nötig. Das, was sie zu erzählen haben, ergibt auch nicht immer Sinn. Aus diesen Gründen sind die zwölf Mädchen und Buben hier, im Kindergarten der Sprachheilschule Winterthur.
«Für die meisten von uns ist Sprache etwas ganz Natürliches», sagt Schulleiterin Monika Grob (52). «Wir haben sie im Kindesalter ganz nebenbei erlernt und beherrschen sie.» Dieser natürliche Reifungsprozess verläuft aber nicht immer reibungslos. Hierzulande sind zirka zehn Prozent aller Kinder in logopädischer Behandlung. Den kleinen Stotterern, Lisplern und Buchstabenvertauschern kann oft schon mit wenig Aufwand geholfen werden. Bei sechs von tausend Kindern sind die Probleme aber so massiv, dass eine spezifische Spracherwerbsstörung diagnostiziert wird. Abgesehen von ihrem gravierenden Sprachproblem sind diese Kinder gesund, haben also keine grösseren hirnorganischen Schäden, einen funktionierenden Gehörsinn und keine massiven emotionalen Beeinträchtigungen.
Wo genau es klemmt, ist individuell verschieden. Meistens sind gleich mehrere Bereiche betroffen. Kinder mit einer Spracherwerbsstörung haben in der Regel nicht nur Mühe mit der Produktion und dem Senden, sondern auch mit dem Empfangen und Verarbeiten von Sprache. Es fällt ihnen schwerer als anderen, neue Wörter und deren Bedeutung zu erlernen, sie haben Mühe, die Grundstruktur der Sprache zu erkennen. Grammatik und Syntax sind für sie Bücher mit sieben Siegeln. Manche reden so undeutlich, dass Aussenstehende sie nur schwer verstehen. Es gibt Vierjährige, die vermeintlich perfekte Sätze bauen, aber nicht in der Lage sind, einfache Fragen zu beantworten. Was alle eint: Wegen ihres Handicaps schaffen sie es kaum, ihre Gedanken und Gefühle in Worte zu fassen und ihre Persönlichkeit über Sprache zu definieren.
«Exgüsi, Frau Büsi»
Während die meisten Chindsgikinder nun ihre Jacken ausgezogen und die Strassenschuhe gegen die Finken getauscht haben, ist Klara immer noch keinen Schritt weiter. Doofer Schal. Was für ein Glück, dass sich Manuela Sutter (32), ausgebildete Kindergärtnerin und Logopädin, gut mit Knöpfen jeder Art auskennt. Ein gezielter Griff und der Knoten ist gelöst. Wäre es doch nur immer so einfach. Die Knoten in den Kinderzungen lassen sich nicht so leicht entwirren.
Im Kindergarten der Sprachheilschule beginnt der Morgen mit einem Spiel. Die Vier- bis Sechsjährigen sitzen im Stuhlkreis, Lewin macht den Anfang. Er steht auf, läuft zu Sophie und sagt: «Exgüsi, Frau Büsi, Sie sitzen auf meinem Platz.» Bei ihm tönt der Satz noch recht verständlich. Nun steht Sophie auf, Lewin nimmt ihren Platz ein. Jetzt ist sie an der Reihe. Sie sucht sich ein anderes Kind aus und sagt das Sprüchlein. Es klingt dieses Mal ungefähr so: «E Büsi Frau Büsi, Sie sitzen auf meinem Batz». Dann kommt Tom dran. Er verhaspelt sich und muss so viel kichern, dass von der armen Frau Büsi am Schluss nur noch ein einziges Chrüsimüsi übrigbleibt. «Wenn die Kleinen zu uns kommen, dauert es oft seine Zeit, bis sie sich öffnen, bis sie selbstbewusster werden, bis sie über sich lachen können», erzählt die Kindergärtnerin. «Wenn meine Arbeitskolleginnen und ich erleben, wie ein Kind auftaut und endlich zu anderen Kontakt aufnimmt, ist das sehr berührend.» Das Team besteht auf der Kindergartenstufe aus zwei Kindergärtnerinnen, einer Logopädin und zwei Sozialpädagoginnen. Sie alle wissen: Wer sprachlos ist, der leidet. Im Sprachheilchindsgi sind die Kleinen endlich unter ihresgleichen. Hier wird nicht nachgeäfft und auch nicht getadelt, hier sind Fehler kein Grund, zu verstummen.
Manuela Sutter verbessert die Kinder nicht direkt. Wenn Sophie sagt, sie sei «müwe», erwidert die Kindergärtnerin: «Du bist heute also sehr müde.» Man nennt das «modelliertes Feedback». Die Kleinen werden nicht vorgeführt, erhalten aber dennoch eine Anleitung, wie das Wort richtig gebildet und ausgesprochen wird. Manuela Sutter redet ebenso wie alle anderen Angestellten der Sprachheilschule während der geführten Lektionen immer Hochdeutsch. Diese Vorgehensweise habe sich bewährt, da die Schriftsprache standardisiert sei. Wenn es später ans Lesen und Schreiben gehe, zahle sich dieser Ansatz zusätzlich aus, so Sutter. Die Familien der Kinder werden hingegen ausdrücklich ermutigt, zu Hause die eigene Muttersprache, den eigenen Dialekt zu gebrauchen.