Bis zwei Opfer pro Klasse
In der Schweiz wird jedes zehnte Kind im Lauf der Schulzeit Opfer von Mobbing. Ein bis zwei Kinder pro Klasse sind also betroffen. Christelle Schläpfer ist individualpsychologische Beraterin und Elternbildnerin. Als Mobbingexpertin berät sie Eltern, löst Fälle an Schulen und bildet Fachpersonen aus. Die ehemalige Lehrerin sitzt an ihrem Pult in ihrer Praxis in Winterthur und hat sich eine Stunde Zeit für ein Online-Gespräch mit mir genommen. Sie erklärt mir das Phänomen noch einmal genauer: «Am einfachsten erklärt sich Mobbing im Unterschied zu einem Konflikt. Bei einem Konflikt geht es um unterschiedliche Meinungen, um Klärung von Besitzverhältnissen. Es geht darum, wer mehr, wer zuerst oder wer recht hat. Bei Mobbing aber geht es um ein Machtungleichgewicht. Mobbing kann das Opfer nicht selbst abwenden.»
Die Stiftung Pro Juventute beschreibt auf ihrer Homepage die Anzeichen und Auswirkungen von Mobbing bei Kindern und Jugendlichen so: «Es machen sich körperliche Beschwerden bemerkbar. Manchmal löst Mobbing auch Schlafprobleme und Appetitlosigkeit aus. Oder das Medienverhalten des Kindes ist anders und es nutzt Medien plötzlich viel intensiver oder kaum noch. Möglich ist auch, dass das Kind aus Angst nicht mehr in die Schule oder ins Training gehen will oder gar Suizidgedanken hat.»
«Die Klinik war damals wie Ferien für mich»
Ich treffe Lou im Innenhof eines grossen Shoppingcenters in Zürich. Er absolviert in einem Betrieb seit knapp einem Jahr eine Lehre als Informatiker und kommt direkt von der Arbeit. Er trägt ein bedrucktes T-Shirt, einen dunklen Rucksack. Wir holen uns etwas zu trinken und setzen uns auf eine freie Bank. Er beginnt sofort zu erzählen – von der Schule, der Klinik, der Ausbildung und von seinem Karatetraining. Er rede gern und offen über alles, versichert er mir: «Die Klinik war für mich damals wie Ferien, sie hat mir sehr geholfen», sagt er, «in die Schule hingegen ging ich nie gerne».
Er sei bereits am ersten Schultag frustriert gewesen, erzählt er mir. Alles, was die Lehrpersonen in der Schule an Lernstoff erklärten, wusste er schon. Er wollte nicht basteln, nicht kreativ sein, er wollte Mathematikaufgaben lösen; und zwar anspruchsvolle. Lou hat einen überdurchschnittlich hohen Intelligenzquotienten, wie Abklärungen später ergeben. «Ich habe von Anfang an keine Hausaufgaben gemacht. Ich sah den Sinn nicht ein, da ich unterfordert war», schildert er mir.
Seine Klasse sei schwierig gewesen. Zuerst hätten alle in der Klasse bis auf vier Kinder einen anderen Jungen gemobbt. Dieser Junge kam schliesslich in eine andere Schule. Lou habe ihm einmal geholfen, als er verfolgt wurde: «Das war der Anfang mit dem Mobbing gegen mich.»
Während ich Lous Erzählungen folge, erinnere ich mich auch an meine eigene Schulzeit. Es gab in meiner Schulklasse diesen einen Jungen, der nie an Partys eingeladen wurde. Der keine Freunde hatte, der in der Pause stets allein war. Wollte er sich anderen anschliessen, wurde er ignoriert, ausgelacht oder abgewertet. Die einen in der Klasse schlossen ihn aktiv aus, andere wie ich schauten einfach zu.
Jedes Kind das etwas anders ist, kann ein Opfer werden
Ich sammle meine Gedanken und konzentriere mich wieder auf Lou. Er schildert, wie ihn seine Mitschüler erst einen Streber nannten, dann «Hawking», wie den weltbekannten Physiker Stephen Hawking, der eine Behinderung hat. «Eigentlich harmlos, doch wenn du tausendmal am Tag so genannt wirst und über sehr lange Zeit, ist das enorm anstrengend und belastend», sagt Lou. Als die Mitschüler aufhörten, ihm Übernamen zu geben, war er erst erleichtert.
Doch die Ruhe hielt nicht lange an. Jetzt schlossen sie ihn überall aus: «Stand ich zu einer Gruppe, reagierte niemand, keiner redete mit mir, ich war inexistent, unsichtbar, ein Geist. Es fühlte sich an, als würde ich verschwinden.» Keiner lud Lou ein oder wollte in der Freizeit mit ihm abmachen, er war immer allein. «Und dann ist es regelrecht ausgeartet. Ich kann mich nur noch erinnern, wie ich in der Garderobe meine Schuhe band und mir ein Mädchen mit dem Fuss ins Auge kickte. Ich reagierte nicht, war wie in Trance, nahm alles hin. Zu Hause hatte ich dann aber emotionale Ausbrüche wegen allem.»