Welches wären weitere präventive Optionen?
In Holland werden alle Erwachsenen, die wegen einem Suizidversuch, einer schweren psychischen Ausnahmesituation, Substanzenmissbrauch oder häuslicher Gewalt in ein Spital eingeliefert werden, gefragt, ob sie minderjährige Kinder haben. Wenn sie dies bejahen, werden sie dem Sozialamt gemeldet. Dieses schaut dann bei der Familie vorbei. In der Schweiz ist das noch nicht Routine. Hier erkundigt man sich nach Haustieren und bietet an, jemanden vorbeizuschicken, um sie zu füttern. Nach Kindern wird nicht routinemässig gefragt.
Ja, das ist irritierend…
Präventiv wirken würde auch, wenn Eltern sich ihre Überforderung eingestehen könnten. Zu mir kommen viele Väter und Mütter, die sagen: Ich hätte mein Kind an die Wand klatschen können. So etwas darf gesagt werden – wenn auch nicht direkt vor dem Kind. Eltern müssen zugeben können, dass sie mit ihrem Trotzkind oder Teenager an ihre Grenzen gelangen. Und es braucht gesellschaftliche Toleranz: Eltern, die es wagen, Hilfe zu holen, sollen sich nicht dafür schämen müssen.
Sie sprachen von Eltern, die sich Anwält innen holen. Begegnen Sie nicht mehrheitlich Familien aus der Unterschicht, die sich wohl kaum Rechtsbeistand leisten können?
Das ist ein Vorurteil. Wir haben mit Eltern aus allen Schichten zu tun, auch mit CEOs. Jene, die viel Geld haben, gehen mit grobem Geschütz auf uns und die Kesb los. Da müssen wir grossem Druck standhalten. Aber es ist schon so: Sozial weniger gut gestellte Eltern oder solche aus anderen Kulturen, die handeln wie wir vor fünfzig Jahren, züchtigen eher körperlich. Ein Vater aus einem Flüchtlingsgebiet etwa peitschte sein Kind mit dem Gurt aus. Als ich ihn fragte, woher die Striemen auf dem Rücken des Kindes stammen, antwortete er: «Ich habe das Kind bestraft, weil es nicht gehorchte. Das macht man bei uns zu Hause so.» Mit dieser ehrlichen Aussage kann ich besser leben als mit jemandem, der in unserer Kultur aufgewachsen ist und die Misshandlung verleugnet.
Wer sind diese bessergestellten Mütter und Väter aus der hiesigen Kultur?
Da sehe ich manchmal Eltern, die beide Vollzeit arbeiten und enorm unter Druck stehen. Sie haben die Haltung: Unser Kind hat ja alles, was es will. Sie verkennen, dass ein Kind auch psychisch misshandelt und vernachlässigt werden kann.
Können Sie ein Beispiel geben?
Bei einem Teenager aus vermögendem Elternhaus, der sich umbringen wollte, stellte ich fest, dass er diverse Drogen konsumierte, deren Namen ich nicht einmal kannte. Er bezog den Stoff übers Internet. Ich konfrontierte seine Eltern damit und erklärte ihnen, dass ihr Sohn in seinem Zustand in eine kinder- und jugendpsychiatrische Einrichtung gehöre. Die Eltern verweigerten sich. Der 15-Jährige war hoch suizidal und ich machte die Eltern darauf aufmerksam, dass wir den Jugendlichen zu seinem Schutz in eine Psychiatrie einweisen müssen.
Wie reagierten die Eltern?
Die Mutter schaute mich entgeistert an: «Alle Kollegen unseres Sohnes konsumieren diese Drogen, das ist doch ganz normal!» Für sie hatte Vorrang, dass ihr Sohn nicht in eine psychiatrische Institution eingewiesen wurde und so das Image der Familie beschädigte. Beide waren Manager und dachten, ihr Sohn hätte doch alles, was er braucht.
Da scheint vornehmlich Vernachlässigung im Spiel zu sein.
Ja, über psychische Gewalt und Vernachlässigung spricht man noch immer zu wenig. Eine Woche nicht mit dem Kind zu sprechen, löst bei ihm Schlimmeres aus als eine Ohrfeige. Ein Kind zu ignorieren ist Vernachlässigung und gravierend. Ich sage den Eltern dann jeweils: «Was Sie nicht wollen, dass man Ihnen antut, sollten Sie auch Ihrem Kind nicht antun.» Niemand mag es, eine Ohrfeige zu kassieren oder als Idiot beschimpft zu werden.